Google
This is a digital copy of a book that was prcscrvod for gcncrations on library shclvcs bcforc it was carcfully scannod by Google as pari of a projcct
to make the world's books discoverablc online.
It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, cultuie and knowledge that's often difficult to discover.
Marks, notations and other maiginalia present in the original volume will appear in this flle - a reminder of this book's long journcy from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to
prcvcnt abuse by commercial parties, including placing lechnical restrictions on automated querying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use ofthefiles We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain fivm automated querying Do not send automated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machinc
translation, optical character recognition or other areas where access to a laige amount of text is helpful, please contact us. We encouragc the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attributionTht GoogXt "watermark" you see on each flle is essential for informingpcoplcabout this projcct and hclping them lind
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are lesponsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can'l offer guidance on whether any speciflc use of
any speciflc book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search mcans it can bc used in any manner
anywhere in the world. Copyright infringement liabili^ can be quite severe.
Äbout Google Book Search
Google's mission is to organizc the world's Information and to make it univcrsally accessible and uscful. Google Book Search hclps rcadcrs
discover the world's books while hclping authors and publishers rcach ncw audicnccs. You can search through the füll icxi of ihis book on the web
at |http: //books. google .com/l
Google
IJber dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Realen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfugbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat das Uiheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nu tzungsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in Partnerschaft lieber Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nie htsdesto trotz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu veihindem. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche Tür Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials fürdieseZwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google-MarkenelementenDas "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser We lt zu entdecken, und unterstützt Au toren und Verleger dabei, neue Zielgruppcn zu erreichen.
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter |http: //books . google .coiril durchsuchen.
I
! ••■:?
I
«
I
I
I
n
^'altaer Sctoitac
ii
ht.
/
Finsteraarhomfahrt.
Von
Abraham Roth.
Mit einer Abbildung des Finsteraarhorns
und
ciur larte 4er Fiasleraarhoni - QtgmU.
ns
Berlin, 1863.
Verlag von Julius Springer.
WaJther Schnitze
Dr. phü.
Inhalt
Solte
Einleitung . . . ' 1
Eine Nacht und ein Tag U
's schön Anneli 27
Das Hörn 73
Irrfahrten 98
Schluss 111
Einleitung.
Einige Tage nach unserer im Sommer 1860 be-
werkstelligten Ersteigung des Wetterhoms*) schlen-
derten mein Hauptfiihrer und ich zwecklos im Roßen-
lauithal herum und freuten uns unseres Daseins. Es
lässt sich nirgends so schön bummeln, wie am Strande
der Seen und auf hohen grünen Bergen, den blauen
Wasserspiegel oder den weissen Firn im Gesicht. Wir
lagerten uns iü den Schatten eines Ahorns und staunten
noch einmal nach den prächtigen Massen des Wetter-
homs, um die Wanderung in der Erinnerung zu wie-
derholen.
— Was meint Ihr, Kaspar? wenn man einmal den
da überwunden hat, so kommt man noch auf manches
andere Berglein hinauf?
— Denk' wohl.
— Ich bin zufrieden mit Euch, und wenn Ihr's
mit mir ebenso seid, dann können wir zusammen einen
*) Siebe des Verfassers „Gletscherfahrten in den Bemer Alpen **
Berlin, Springer. 1861.
R t h j Flnstferaarhornfnhrt. 1
— 2 —
Blick in die Zukunft werfen. Welchen sollen wir das
nächste Mal d'ran kriegen?
— Wer glücklich auf das Wetterhom gekommen
ist, hat sich vor dem Finsteraarhom nicht zu furchten.
— Sapperment,. Ihr wollt mich g'rad' auf den
Allerhöchsten spediren? Das ist denn aber doch ein
anderer Kamerad.
— Höher, aber nicht wüster.
— Kennt Ihr ihn? War't Ihr schon oben?
— Oben noch nicht; aber d'rum herum habe ich
gejagt, und ich fand, dass er eine anständige Höhe hat,
auch von drei Seiten schauderhaft stotzig ist, von der
vierten aber für unser Einen so zugänglich, wie ein
sprödes Meidschi, dem man vom Heirathen spricht.
Trotzdem wäre ich der Meinung, wir sollten zu dieser
Arbeit den alten Jaun mitnehmen.
Den alten Jaun kannte ich bereits von Ruf. Er
war auch einer jener kühnen Führer von Agassiz,
denen kein Geier zu hoch in der Luft, kein Teufel zu
tief in der Hölle, sie packten ihn doch , und was mir
ein Bekannter einst über ihn aus einer Wetterhorn-
besteigung mitgetheilt, gewann mich vollends für den
Mann. Eine kleine Karavane stieg von der Lauteraar
aus nach dem genannten Berg, und der Weg führte
irgendwo über eine sehr abschüssige, schwindlige Fel-
senwand, bei deren Ueberschreitung einer der Reisen-
den schon im Aufsteigen sich keine Lorbeeren holte»
Auf der Rückkehr an die nämliche Wand gelangt, war
der Unglückliche so sehr von Müdigkeit erschöpft und
vom Schwindel verwirrt, dass er die Führer in die
grösste Verlegenheit setzte. An ein Tragen des Man-
nes war auf der äusserst schmalen Passage nicht zu
denken, der Reisende selbst aber bat mit dem Jammer
des Verzweifelnden, der lieber thatlos dem sicheren
— 3 —
Tod in's Auge starrt, als mittelst einer Kraftanstren-
gung sich zur Bettung hindurcharbeitet, man möge ihn
doch ja um Gottes Willen seinem Schicksal überlassen,
über die schaurige Wand komme er in keinem Falle
mehr. Auf dieses wird Jaun wild, und der Zorn gibt
ihm seinen Entschluss ein. Er fasst das nächstliegende
Seil und windet es drei, vier Mal fest um den Leib
des Touristen; wie der Knoten geschürzt ist, packt er
seinen noch liegenden Mann mit nerviger Faust am
Kreuz, hebt ihn mit einem den Schwingern wohlbe-
kannten Ruck in die Luft, stellt ihn auf die Beine,
Front gegen den Abgrund, und donnert ihn von hinten
an: „Vorwärts, Herr! Beide oder Keiner." Dem über-
raschten Beisenden ist es, der Satan habe ihn am
Kragen; halb schwebend, halb gehend fühlt er sich in
die entsetzliche Wand hinausgestossen, vor den Augen
flimmert's ihm, aber — gleich als wäre aus dem zu
eisernen Sehnen angeschwollenen Arm des Führers fein
elektrischer Strahl in ihn gefahren — die Beine tragen
ihn doch und zappeln maschinenmässig fort ; Jaun hält
sich indessen mit der Linken am zackigen Felsen und
stösst mit der Rechten sein Opfer unaufhaltsam vor
sich her. Eine oder zwei Minuten dauerte die wag-
halsige Tour, bei welcher die nächste Möglichkeit aller-
dings die war, dass alle Beide in den Abgrund rollten.
Der Himmel aber segnete die rettende That.
Man begreift, dass ich, dieses Stückleins mich
erinnernd, meinem Führer antwortete:
— Sprecht mit dem Jaun, der Mann gefällt mir.
Manche Woche war seit dieser Verabredung, die
im folgenden Jahr erst zur Ausführung kommen sollte,
verstrichen, und man sah die Vorberge der Alpen
bereits mit leisem Schnee bekleidet, als Kaspar seinen
üblichen Herbstgang in die Stadt herunter machte,
— 4 —
beladen mit der gewohnten Beute von Kristallen und
geschossenen Vögeln. Schon von weitem bemerkte ich,
dass in der Zwischenzeit mit dem jungen Mann eine
Veränderung vorgegangen sein musste: vom Kopf bis
zum Fuss trug er sich neu in dunkelgrauem Grobtuch,
und auf den Schnitt des Wamses schien eine besondere
Sorgfalt verwendet; unter dem übergeschlagenen weissen
Hemdkragen hervor schaute mit langen Zipfeln ein
schwarzseidenes Halstuch, den Knoten so zierlich ge-
schürzt, wie ihn nur eine weibliche Hand zu gestalten
vermag. Aus dem Gesicht aber strahlte die helle
Fröhlichkeit.
— Was ist's mit Euch, Kaspar? Ich wette Zwanzig
an Eins, Ihr habt einen Schatz.
— Nein, eine Frau.
— Herrschaft von Mannheim! geht es im Ober-
land auch schon' per Eisenbahn? Na, da ist wieder
einmal ein stilles Wasser tief gewesen. Wer hätte
Euch solche hochverrätherische Gedanken zugetraut!
Im Uebrigen gratulire ich und nehme an, es wird ein
gelungenes Meiringer Kind sein.
— Nit bös.
— Ah, jetzt finde ich ein Indicium. Ihr ver-
glichet mir diesen Sommer das Finsteraarhorn mit
einem Mädchen, das durch Heirath zu erobern ist.
Damals kam mir das Bild etwas kühn vor, jetzt be-
greife ich's aber. Kaspar, Schlaufuchs, erfahrener
Mann! damals schon war der Teufel los, he?
— Mich wundert, Herr, wie Euch die ganze Ge-
schichte so neu vorkommt. Habe ich Euch nicht in
der Nacht, als wir zum Wetterhorn aufbrachen, gesagt,
dass ich die ganze vorherige Nacht auf der Steinalp
tanzte? Ich that es, obgleich ich wohl wusste, welche
Pflichten mich bei Euch erwarteten. Glaubt Ihr,
H
- 5
man lege sich solche Strapazen auf wegen eines Hag-
steckens?
— Gut, gut. An Euch haben sich die Worte des
Dichters erprobt:
„Kfllin ist das Mühen,
Herrlich der Lohn.'*
Noch einmal , ich gratulire und bitte mich . für das
nächste Mal bei Eurem Frauchen zu Gaste. — Nun
aber berichtet mir — was sagt der alte Jaun zu unse-
ren Plänen?
— Der sagt nichts mehr.
— Wie so?
— Er ist todt.
— Wird nicht sein! Er ist doch nicht verun-
glückt?
— Nein, eines ordinären Todes gestorben, krank
im Bett. Gott habe ihn selig. Wegen des Alters hätte
er's aber noch ein paar Jährchen aushalten können.
Es ist nicht recht von unserem Herrgott, dass er die
braven Menschen so oft vor den schlechten sterben
lässt; wenn ich Meister wäre, würde ich zuerst mit den
Hallunken aufräumen.
— Nun geht unsere Finsteraarhornfahrt wohl zu
Wasser?
— Du tout, sagt der Franzos.
— Aber wie wollt Ihr's nun anstellen? Ihr wäret
ja nie oben und Eure Brüder, der Menk und der Jakob,
die ich gerne wieder dabei hätte, auch nicht.
— Pah; denen, die zum ersten Mal oben waren,
hat auch Niemand den Weg gezeigt. Ich garantire,
dass wir hinauf kommen, wenn uns das Wetter keinen
Strich durch die Rechnung macht.
Ich wusste, dass, wenn Kaspar mit solcher Be-
stimmtheit etwas behauptete, darauf zu bauen war
— G —
wie auf Granit. Insofern beruhigte ich mich. Allein
bald darauf stieg mir das neue Bedenken auf:
— Was sagt Euer junges Weibchen zu solchen
Fahrten?
— Was sollte sie sagen? Als sie mich nahm,
wusste sie, dass sie einen Mann heirathete, der Jagen
und Bergsteigen liebt wie sein Leben; nun soll sie
mich auch als solchen behalten. Mag sein, dass es
ihr manchmal im Herzchen krabbelt, wenn ich mit der
Büchse auf der Schulter auf einige Tage fortziehe.
Das geht nun einmal bei dem Weibervolk nicht an-
ders, und eint' oder anderes Mal ist's mir beim Ab-
schied fast auch etwas curios zu Muthe. Früher spürte
ich nichts von dem. Aber 's hilft nichts, gejagt muss
sein, über alle Berge gesprungen und dem Teufel ein
Ohr abgeschliffen; so bin ich und will ich bleiben bis
in Ewigkeit. Amen.
— Und mich will bedünken, wenn bei solchen
Gelegenheiten in der einen Herzkammer des Weibchens
die Sorge prickelt, so ruft von der andern her die
Eitelkeit: „Herein!" und sagt dann zur Sorge: „Thu'
nicht so dumm; es ist doch auch ein anderlei, einen
Mann zu haben, der etwas kann, was nicht jeder
Schneider kann, der mit Gesundheit und Kraft etwas
vorstellt in der Welt, als so ein Ofenhüter, der jeden
zweiten Tag in die Apotheke schleicht."
— Exact das mein' ich auch.
— Unsere Frauen sollen leben!
— Und das Finsteraarhom daneben!
Beide: Hoch! hoch! hoch!
Eine Nacht und ein Tag.
Sonntags, den 28. Juli 1861, hatte ein feiner Südost
die Alpen von Wolken und Nebeln reingefegt und
eröffnete damit jene Reihe prächtiger Monate, welche
den Sommer und Herbst dieses Jahres in jeder Bezie-
hung zu gesegneten, die Saison selbst aber für Glet-
scherfahrten zu einer Mustersaison machten. Früher
erhaltener Weisung gemäss telegraphirte mir Kaspar
am Morgen dieses Tages, ich möchte suchen, noch den
nämlichen Abend in Meiringen einzutreffen, jetzt sei es
Zeit, das verabredete Unternehmen auszuführen. Leider
verzögerten die Umstände meinen Aufbruch bis. zum
Mittag des folgenden Tages, so dass ich erst am 29.
Abends 7 Uhr in Brienz, wo mich Kaspar mit einem
Wägelchen erwartete, ankam. Er war anfänglich nicht
in bester Laune, der verlorene schöne Montag hätte
nach seiner Meinung kein blauer sein sollen, er wollte
nur noch für einen, höchstens zwei Tage sicheres
Wetter gutstehen, für den Mittwoch Mittag oder Abend
prophezeite er eine Krisis, die sich zwar vielleicht wie-
der würde zum Bessern, aber ebensowohl auch zum
— 8 —
Schlimmen wenden können. Diese Krisis fiel nun gerade
in die Zeit, wo wir muthmasslich mit der Spitze des
Finsteraarhoms zu thun Tiatten. Ich gestehe, dass mir
die Eröffnung kein sehr willkommener Gruss war. In-
dessen bestiegen wir gleichwohl unser Gefährt, um
nach Meiringen zu fahren und unterdess den wichtigen
Casus reiflicher zu erwägen.
— Nun, Kaspar (hub ich, bequem in die Wagen-
ecke gedrückt und nach dem etwas umwölkten Wild-
gerst hinauf schielend, wieder an), was ist denn nun
eigentlich zu machen? Unverrichteter Dinge nach Bern
zurückzukehren, dazu trage ich wenig Lust, und Geister
und Gnomen, die uns über Nacht an den Fuss des Finster-
aarhoms trügen, stehen mir leider nicht zu Befehl.
— Und wenn es die Geister nicht thun, so kön-
nen im Nothfall unsere Beine etwas dergleichen leisten.
Wenn wir, zum Exempel, diese Nacht durchmarschirten
bis zur Grimsel, so würden wir den heutigen Tag nach-
holen; dann ist es wenigstens möglich, bis überjnorgen
Mittag auf die Spitze zu gelangen, und bis dahin (fuhr
er mit einem bedeutungsvoll fragenden Blicke nach
dem Himmel fort), bis dahin sollte es der Föhn noch
prästiren mögen.
Mir war ein Stein vom Herzen gewälzt. Da nun
aber einmal an die Stelle des fröhlichen Vertrauens die
Zweifel getreten waren, so stieg mir das neue Bedenken
auf: eine Nacht marschiren, dann einen Tag durch den
Schnee waten, die folgende Nacht in den Gletschern
bivouakiren, hierauf erst die Hauptarbeit verrichten
und das gefürchtete Hörn erklimmen, und dies Alles
ohne jede Vorübung, frisch von der schweren Luft
der Ebene und vom Pulte weg — — Abraham!
Abraham! wirst du die Strapaze aushalten? Nimm
dich in Acht und sage Heber nicht zu, als dass du
I
— 9 —
dich am Ende blamirst. Ich erwiderte dem ruhig ent-
schlossenen Gemsenjäger:
— Das ist etwas für Euch, Kaspar, imd Eures
Gleichen; was mich betriflft, so habe ich ohnehin so
viel Respect vor unserem Kriegsobjecte, dass ich glaubte,
ein wahrhafter Schlaf im Bett auf der Grimsel sei vor
dem Beginne der Operation durchaus kein Luxus, und
ich möchte nicht etwa zu jenen Humbugem zählen, die
am Fusse eines schönen Berges elendighch hocken blei-
ben, indess ihre Führer auf der Spitze die Fahne auf-
pflanzen und hintendrein die fromme Lüge ausstreuen,
der Herr habe die Heldenthat verrichtet. Die Hand
aufs Herz, Kaspar, traut Ihr mir zu, dass ich eine
solche Strapaze aushalte?
— Wenn Ihr noch so gesund seid wie voriges
Jahr, ja.
— Halt! Kutscher, halt!
Der Kutscher, ein Jagdgefährte Kaspar's, zog rasch
die Zügel an und schien nicht wenig erstaunt über
den barschen Ton des Befehls.
— Kutscher, jetzt macht Ihr, dass wir so schnell
wie möglich nach Meiringen kommen. Dort gebt Ihr
Eurem Rösslein die doppelte Ration Haber, dann führt
Ihr mich im Schritt nach Jnnertkirchen, bis dorthin
soll Euer Karren mein Nachtquartier sein. Im Hof,
Kaspar, stelle ich mich unter Euern Befehl. Wir mar-
schiren die Nacht. Hü,.Bruuli!
Der Kutscher stimmte ein in den Ruf, hess die
Peitsche knallen und stiess dann einen lauten Jauchzer
aus. Kaspar hing einen embryonischen Jodler d'ran,
der sofort vom Jagdcameraden aufgenommen und in
verbesserter Auflage weiter gesponnen wurde. Es klang
recht lustig, begleitet von Hufgestampf und Peitschen-
knall und Wagöngerassel, und ich glaube, das gerade
- 10 -
vor uns in der Ferne zum abendlich angehauchten
Himmel ragende Sustenhorn lachte gemüthlich dazu in
seiner weissen Nachtkappe.
Die Nacht war längst hereingebrochen, als meine
ehemaligen Wetterhornführer, Kaspar, Melchior (Menk)
und Jakob Blatter, mit allem Nöthigen versehen, zum
Aufbruche bereit standen. Auch das Rösslein war
wieder eingespannt und liess den frisch bekommenen
Hafer spüren, als es munter zum Dorfe Meiringen hin-
austrabte. Nicht weit ausser demselben beginnt die
Strasse ihre ruhige Steigung zum Kirchet hinauf und
ich benutzte den nun beginnenden langen Schritt zum
Schlummern. Die Bettlage in dem kurzen Wägelchen
war nicht die bequemste, desto prächtiger aber der
Sternenhimmel, der über dem HasUthal glänzte. Wie
ein gesunder Mensch, wenn er nur ernstlich will, zu
jeder Stunde erwachen kann, so ist es ihm gegeben,
jederzeit sich durch ein nöthiges Schläfchen zu stärken.
So gelang es auch mir, jedoch nicht ohne dass die
Sterne sich im buntesten Tanz in meine Träume
flochten und das von grossen Erwartungen volle Herz
durch vernehmUches Pochen seine Erregung verrieth.
Um 11 Uhr Nachts trafen wir im Hof zu Innert-
kirchen ein; Alles lag schon in den Federn, und es
bedurfte um so mehr Arbeit, in dem Gasthofe Einlass
zu finden, als der Wirth uns anfänglich die Ehre an-
that, unser Rufen und Klopfen für Nachtbubenlärm zu
halten. Nachher freilich machte er die Sache durch
verdoppelte Gefälligkeit wieder gut. Nach einigen
kräftigenden Flaschen brachen wir Schlag Mittemacht,
mit dem Beginne des 30. Juli, wieder auf und began-
nen die Bergfahrt. So klar auch jetzt noch die Sterne
funkelten, so beleuchteten sie doch nur spärlich den
Saumweg, der zwischen Felsen und Aare gen Guttannen
— 11 —
ansteigt. Nur wo von Stufe zu Stufe das Thal in
flacheren Matten sich ausweitet, vernahm man dann
und wann ein Wort aus der schweigsamen Kolonne.
Die Gespräche waren kurz angebunden, denn man
wollte frisch marschiren, ausserdem trug wohl ein
Jpder als einzige, Alles beherrschende Phantasie die
Gewaltigkeit des zu erringenden Zieles in Kopf und
Herzen; und dann ist es ja ein eigenes Vorrecht der
Nacht, die Seele des Menschen zu stiller feierlicher
Betrachtung in sich selbst hinein zu bannen.
Als die breite Thalsohle von Guttannen erreicht
war, goss der endlich aufgegangene Mond ein helleres
Licht über die Landschaft und zeichnete magische
Figuren an die Felsen. Lautlos und ohne Aufenthalt
ging's auch durch dieses Dörfchen hindurch; wir
schlichen beinah' an den Häusern vorbei, um ihre Be-
wohner nicht aus der Ruhe zu stören, nur die Eisen-
spitzen der Bergstöcke prallten mit grellem Schall vom
rauhen Strassenpflaster zurück. Nun führte der Weg
jene wilden, öden, seelenlosen Scenerieen hinan, durch
die man zur Handeck gelangt. Bei Tage haben sie
mir nie gefallen, in dieser nächtlichen Beleuchtung
aber nahmen sie bedeutend mehr Charakter an, ob er
auch stets ein unfreundlicher blieb. Diese Gegend ist
Tag und Nacht befähigt, eine Fülle unwirscher Blocks-
berggeschichten zu beherbergen.
Ein klarer aber kalter Morgen brach an, als wir
die Handeck betraten. Auch hier stacken noch Mensch
und Vieh in Laub, Heu und Stroh, als wir an die Lä-
den des Gasthauses klopften, um einen warmen Mor-
gentinink zu bekommen. Langsam und verschlafen
schleppte sich auf unsere Aufforderung ein unge-
waschenes Weibsbild in die Küche; langsam und ver-
schlafen öflfnete ein ungekämmter Kühbube die knarrende
— 12 -
Stallthür, um seine Schutzbefohlenen in's Grüne zu
lassen, und das Vieh selbst schüttelte phlegmatisch und
appetitlos die Köpfe. Es hatte noch Niemand rechte^
Lust an dem jungen Tag, nur die Aare hinter den
Tannen rauschte in ungelähmtem Schwünge nach ihrem
tiefen Felsenkessel hinab und sandte lustige Schaum^
wölken über die Wipfel zurück.
Es dauerte mehr als eine Stunde, bis unser Früh-
stück bereitet und verzehrt war. Mittlerweile brach
der helle Tag herein, und bald fehlte auch die Sonne
nicht, als wir uns wieder auf den Weg gemacht hatten.
Die erste Touristenseele, die uns oberhalb des Räth-
richsbodens von der Grimsel her entgegentrat, war ein
alter Commilitone, den sie einst wegen seiner nicht
übermässigen Hochgeschossenheit Pipin den Kleinen
nannten.
— Guten Morgen, Pipin!
— Ei, schönen guten Tag, Herr Doctor.
— Woher?
— Von der Strahleck. Wohin?
— Zum Finsteraarhorn.
— Der Tausend! Gute Verrichtung!
— Adieu, Pipin.
Ich glaube, unsere Unterhaltung dauerte wenig
länger; ich war voll des Kommenden, er voll des Er-
lebten, und wo das Herz des Menschen von grossen
Dingen eingenommen ist, da muss es zuerst mit sich
selbst fertig werden, ehe es in die Aussenwelt tritt. In
solchen Momenten innerer Gährung ist die wogende
Brust ein Heiligthum, und jedes überflüssige profane
Wort eine Sünde. Adieu, Pipin !
Um 7 Uhr waren wir in der Grimsel, eben als ein
Theil der Uebernachteten die Pferde bestieg, um in
dieser oder jener Richtung weiter zu reisen. Auf dea
— 13 —
Nachtmarsch waren uns zwei Stündchen Rast wohl ge-
stattet. Diese Zeit wurde aber auch redlich dazu be-
nutzt, die letzten Utensilien zur Gletscherreise herbei-
zuschaffen. Dazu gehörten vor allen Dingen die
Speisen, der rothe Wein, den man, bei 8 Maass, in
eine grosse blecherne Kapsel schüttete, und die Woll-
decken, welche uns für die nächtlichen Beiwachten
dienen sollten. Dem Grimselverwalter, Herrn Frutiger,
bin ich das Zeugniss schuldig, dass er und seine Leute
uns sehr freundlich beistanden.
Es war ein ausgezeichnet schöner Tag aufgegan-
gen, als wir um 9 Uhr die Grimsel verliessen und
direct den Gletschern zusteuerten. Alle Welt kennt
nachgerade den Unteraargletscher, der durch Agassiz
und seine Schüler schon vor bald zwanzig Jahren die
Aufmerksamkeit der Gebildeten in höherem Grade auf
sich zog und wo in unseren Tagen noch der Natur-
forscher Dollfus mit seltener Beharrlichkeit die damals
begonnenen Arbeiten fortsetzt Auf diesem Wege fuhrt
die Bahn zum seither erst den Touristen erschlossenen
Gletscherpasse der Strahleck, einer jener Regionen, die
man einst als eine unnahbare Heimath aller bösen
Geister fürchtete und wo nun allsömmerlich mehr als-
ein zarter Damenfuss sicher über die eisigen Klüfte
schreitet. So wird Schritt für Schritt der menschliche
Geist mit seinem Wissen Herr über die rohe Natur,
jeder errungene Sieg stählt den Muth, und der
wachsende Muth findet immer neue Schlüssel zu ver-
schlossenen Pforten. Unser Weg ist heute aber ein
anderer. Wo der Unteraargletscher die gewaltige häss-
liche Moräne vor sich her stösst, benutzen wir nur
seinen Saum, um ihn quer zu überschreiten und vom
linken an das rechte Ufer trockneren Fusses zu ge-
langen, als wenn wir den Uebergang in dem sandigen
— u —
und steinigen Delta suchen würden, das von den man-
cherlei Armen der jungen Aar gebildet wird und so
ziemlich die ganze Thalsohle ausfüllt, um ihr ein recht
trostloses Aussehen zu verleihen. Im Vorbeigange nur,
als die Höhe der Moräne erreicht war, schweifte der
Blick über die Fläche des Unteraargletschers hin, au&
dessen Hintergrund der Abschwung auftaucht.
Als der Gletscher übersetzt war, begann ein an-
haltendes starkes Steigen am Ausläufer des Zinken-
Stocks, zur Seite der in munteren Sätzen herabstür-
zenden Oberaar, die vom Oberaargletscher kommt und
ihre Wasser der unteren Aar zuführt. Hier zum
erstenmale begannen die Lungen angestrengt zu wer-
den, und die aus heiterstem Himmel strahlende Vor-
mittagssonne machte sich nach und nach empfindlich
bemerkbar. Nach erreichter Höhe ward uns die Be-
friedigung, in eine angenehme Alp einzubiegen, die sich
am Südabhange des Zinkenstocks ausbreitet und ziem-
lich stark von Vieh aller Art befahren war, von Scha-
fen, Ziegen, Hornvieh und Pferden. Eines dieser Letz-
teren hatte ein arges Unglück betroffen: ohne Zweifel
war es auf dem rauhen und stellenweise steil abfallen-
den Alpboden nicht sicher gegangen, es muss einen
Fehltritt gemacht haben, gestürzt und mit gebrochenem
Bein den Abhang hinuntergerollt sein, wo es auf einer
Schneebrücke verblutete. Schon sah man von Weitem
auch sein blankes braunes Fell vom Bisse der gierigen
Bergdohlen angebohrt.
Wir erreichten den Saum des Oberaargletschers
um 12 Uhr und sahen uns veranlasst, eines behag-
lichen Mittagschläfchens in der Sonne zu pflegen. Die
durchwanderte Nacht lag eben doch in allen Gliedern
und rächte sich an einem im Ganzen langsamen Marsche.
Zu verlieren war dabei nichts, denn für's Erste hatten
— 15 —
wir mit der Zeit nicht gerade zu geizen, und zweitens
ist es für einen Menschen von Gesundheit und Gefühl
ein Hochgenuss, angehaucht von Gletscherluft und an-
gebraten von der Gebirgssonne in trockenem Grase
hinzudämmern, umduftet von frischen Bergblumen und
überwölbt vom blauen Himmel, dessen Saum aufblen-
denden Firnen ruht.
In der That stacken wir schon tief in der Hoch-
alpenwelt drin. Der Fuss des Oberaargletschers liegt
seine 2260 Meter (6956 Pariser Fuss) über Meer, und
auf drei von unten leicht übersehliaren Terrassen steigt
er in einer Länge von 3 — 4 Marschstunden bis auf die
Höhe von 3238 Metern (9966 Fuss) hinan. Hier oben
treten die beiden Bergreihen, welche den Gletscher
einrahmen, in sich begegnenden Bogen nahe zusam-
men und lassen auf eben genannter Höhe nur eine
schmale Pforte offen: das Oberaarjoch. Links von dem
am Fusse des Gletschers stehenden Beschauer, oder
am rechten Ufer, treten als bemerkenswertheste Berge
aus der Kette, die weiter östlich auch das kleine (den
Touristen bekannte) Sidelhom entsendet, in fast un-
unterbrochen zunehmender Höhe hervor: das grosse
Sidelhom (2880 Meter), der Ulricher Stock (nahezu
2900 Meter), der Gesehener Stock (nahezu 2800 Meter),
das Löffelhorn (über 3000 Meter), das Rothhom (über
3400 Meter). Am linken, nördlichen Ufer herrschen
und streben ebenfalls zu immer grösserer Höhe empor :
der Zinkenstock (über 3000 Meter), der Grünberg (über
3000 Meter), der Thierberg (über 3100 Meter), das
Scheuchzerhorn (nahezu 3500 Meter), das Grünhorn
(über 3500 Meter), das Oberaarhorn (3634 Meter oder
11,185 Pariser Fuss). Oberaarhorn und Rothhom sind
es also, in welchen die beiden Ketten ihre Höhepunkte
erreichen, und diese zwei Berge stellen sich als ge-
— 16 —
waltige Pfosten des Thores dar, das den Weg nach der
noch viel mächtigeren Gletscherwelt von Wallis öffnet;
doch üherragt alle Gipfel nicht nur durch seine grös-
sere Höhe, sondern auch durch schöne pyramidale
Gestalt das Oheraarhorn, und der weite, breite Glet-
scherteppich, der von seinem granitenen Fuss aus-
strömt, hebt es wo möglich noch majestätischer in den
blauen Himmel empor.
Um 2 Uhr herum betraten wir den Gletscher und
durchschritten ihn nun in seiner Mitte der Länge nach
bis zum Oberaarjoch. Er war sehr zahm, ob auch mit
einer dünnen Schneeschicht bekleidet; wenn wir den-
noch am Seil marschirten, so geschah es nur, weil am
Fusse der verschiedenen Terrassen jedenfalls breitere
Spalten gähnen mussten und die schneeschmelzende
Glut der Nachmittagssonne an solchen Orten zur Vor-
sicht mahnte. Gleichwohl trafen wir keine einzige
Stelle, bei welcher von wirklicher Gefahr zu reden ge-
wesen wäre; man konnte sich ganz ungestört dem
Genüsse der schönen Hochwelt überlassen.
Wenn beim ersten Betreten des Gletschers schon
die ganze firnbekleidete südliche Kette sich vor dem
Aug' entfaltete, so traten dagegen die Kulme der nörd-
lichen Linie nur einer nach dem andern hervor, weil
wir von Norden her die Mitte des Gletschers bestie-
gen und gegen diese Seite hin erst allmäUg den Ueber-
blick gewannen. Ich stehe nicht an, gerade dieser
nördlichen Kette den Vorzug zu geben, nicht sowohl
weil ihre Berge höher streben, als weil sie entschieden
charakteristischere und mannigfaltigere Formen auf-
weisen im Vergleich zu einer etwelchen Monotonie der
parallel laufenden Rivalen. Mir schien im weiteren
Marschiren der allgemeine Charakter der Region etwas
ungemein Einsames zu haben, das auf die Dauer sogar
— 17 —
ermüden kann; und wenn das Interesse dennoch wach
blieb, so schreibe ich es noch einmal dem grösseren
Wechsel der nördlichen Berggestalten zu. Da war
namentlich das Scheuchzerhom, das im Verein mit
dem Thierberg wunderschöne Fimfelder entfaltet; und
auf ihrem blendend weissen Plan, hoch über uns, sahen
wir langsam zwei dunkle kleine Punkte sich bewegen.
Das Fernglas bestätigte die Angabe Kaspar's, dass eine
Gemse mit ihrem Jungen gemüthlich in der warmen
Sonne spaziere. Die Alte ging voraus und hielt von
Zeit zu Zeit im Marsch inne, bis das weniger geübte
Kleine nachgetrippelt kam. Dann blieben sie eine
Weile zusammen stehen, um nach kurzer Rast und
klugem Hin- und Herblicken ihres Weges weiter zu
ziehen. Weiss nicht, ob die Mutter bei diesen Halten
nur Sorge zur Lunge des Kleinen trug, oder ob dieses
schon so weit in seiner geistigen Entwickelung vorge-
schritten war, dass ihm auf peripatetischem Weg weise
Lehren über das Verhalten gegen die Schlechtigkeiten
der Menschen ertheilt werden konnten. Zur Ergrün-
dung dieses Räthsels war mein Fernglas zu schwach.
Wer aber der lieblichen FamiUenscene am allereifrig-
sten durch seinen ferntragenden „Jagdspiegel" zuschaute,
wer diesen dann gerührt dem Nachbar überreichte und
in fast sentimentalem Lobe der graziösen und ge-
scheidten Thierchen überfloss, das war der berufs-
mässige Gemsenmörder Kaspar. Ich habe seither ver-
sucht, den Widerspruch zu lösen, der darin zu liegen
scheint, dass der Jäger das Thier seiner Wahl fast wie
ein Kind lieben und es doch auf den Tod verfolgen
kann; und ich legte mir die Sache so zurecht: ein
schönes und intelligentes Geschöpf, wie die Gemse ist,
nimmt den Menschen für sich ein, allein es reizt ihn
durch scheue Unnahbarkeit zur Verfolgung; in der
Roth, Flnsteraarhomfahrt. 2
- 18 -
Gefahr entfaltet die Gemse erst recht ihre Tugenden,
vor Allem dadurch, dass sie den Menschen zwingt,
seinerseits alle Kräfte des Körpers und des Geistes
anzuspannen. So wächst in der Jagd die Achtung vor
dem Wild, zugleich aber auch die Wuth über die man-
gelnde eigene Kraft, der beleidigte Menschenstolz, und
ist der Stolz durch einen glücklichen Schuss befriedigt,
dann kehrt das Herz des Jägers zu seiner ursprüng-
liclien Milde zurück und umfasst das ganze Gemsen-
geschlecht mit aufrichtiger Liebe, um es bei gutei^
Gelegenheit — aufs Neue zu verfolgen.
Nachdem wir die hübschen Thierchen eine Weile
ruliig ihres Weges ziehen gelassen, suchten wir sie
durch Schreien, Pfeifen und Toben in Galopp zu setzen,
um zu sehen, wie sie sich auch in diesem Falle be-
nehmen würden; allein die Entfernung war zu gross,
unsere Töne erstarben in der weiten Gletscherwildniss ;
und Gehör und Gesicht der Gemse reichen bekanntlich
lange nicht so weit wie ihr Geruch. Nur einmal schien
die Alte ihren Kopf lauschend in die Höhe zu strecken,
als ob ihr etwas nicht kauscher geschienen hätte; da
aber der Tahsman, die feine Nase, keine Gefahr ver-
kündete, so achtete sie weiter nicht des Krakehls der
niedrigen Menschen, stolzirte gelassen auf der sonnigen
Halde fort, und das unschuldige Junge bemühte sich
eifrig hinterher.
Wir liessen unterdessen die Blicke ebenfalls weiter
über die weissen Flächen gleiten, am liebsten das herr-
schende Oberaarhorn hinan, und nicht ohne einen An-
flug freudigen Schauers sahen wir rechts von seiner
Spitze über die Kette herüber den schwarzen Gipfel
des Finsteraarhorns gucken. Das zog uns urplötzlich
ab von der sentimentalen Ergründung der Gemsenseele
und lenkte die unserige auf ihr eigenes Ziel.
— 19 —
Es versteht sich, dass mit dem allmäligen Höher-
steigen der Blick in die Anssenwelt sich öffnete, und
zwar zunächst in der nämlichen nordöstlichen Rich-
tung, in welcher der Gletscher zu Thal steigt. Da
enthüllte zu allervorderst der Galenstock seine breiten
Firnmassen. Hernach folgte der Winterberg, der be-
kanntlich nach neuesten Messungen den eben genannten
noch überragt und der eigentliche Herr der verglet-
scherten Grenzscheide zwischen Bern und Uri ist. Es
waren dies aber Alles nur Vorläufer zu den imposanten
Aussichten, die sich vom Oberaarjoche selbst dar-
bieten.
Wir erreichten das Joch wenige Minuten nach
6 Uhr. In der Richtung, von welcher wir gekommen
waren, schweifte das Auge zunächst über das stunden-
lange weisse Feld des Oberaargletschers zurück, der
durch ovale Einfassung und weiche Concavwölbungen
einer ungeheuren Wanne nicht unähnlich sah. Dann
flog der Blick weiter nach dem Triflgletscher hinüber,
der seine breiten Eisfelder sehr merklich über die vor-
stehenden Hörner hinausträgt, um am jenseitigen
Ufer noch kräftigere Bursche hervorzustossen, nämlich
den oben genannten Winterberg und die Thierberge.
Nördliche und südliche Wacht dieses zackigen Firn-
kammes sind das Sustenhorn und der Galenstock. Doch
das Auge weilt nur kurz auf diesem Mittelgrunde, so
schön er auch ist, und sucht jenseits der Kette des
Winterberges die nordösthchen Urner und die Glarner,
die im Tödi ihren Meister anerkennen. Und noch ist
dies nicht die Hälfte der östlichen Fernsicht des Ober-
aarjoches. Man erinnere sich, dass es eine Höhe von
3200 Metern erreicht, es überragt also um mehrere
hundert Meter, mit Ausnahme des unmittelbar nebenan
im Süden ansteigenden Rothhoms, alle Kulme der
2*
— 20 —
«
Bergkette, welche das rechte Ufer des Oberaarglet-
schers bilden, und die Folge davon ist, dass nun auf
einmal auch die Berge hervortreten, die bis dahin
hinter der Kette verborgen waren; der Gotthardsstock
und die Legion der Gipfel des Bündner Oberlandes. Es
ist ein Meer von Bergen, deren Namen ich gar nicht
suchen mag, eine wahre Pracht.
Die grösste Pracht? — Noch nicht. Ich habe bis
jetzt noch keinen Gletscherpass überschritten, der auf
seiner Höhe in so frappanter und erhebender Weise
Fem- und Nahsicht vereinigte, wie der Sattel, von dem
ich eben rede. Wenn der Mensch im Anschauen jener
Legion von felsigen und firnigen Kulmen des Ostens
und Nordostens beinahe sich zu verlieren scheint,
so wird er im Umwenden nach Westen plötzlich durch
die unmittelbare Nähe der ihm eutgegentretenden Rie-
sen auf sich selbst zurückgebannt, und sein überraschtes
Staunen verkündet, dass die wenigen, aber durchweg
aus dem Kolossalen geschnittenen Gestalten ihn völUg
beherrschen und dem herrlichen Punkt erst die Weihe
geben.
Hier, gerade im Westen, liegt in der Tiefe ein neuer
Gletscher, er läuft quer von Norden nach Süden; die
Firne des Grates, der sich vom Oberaarhorn nach dem
Finsteraarhorn hinüberzieht und Mitte Weges noch
einmal auf der Höhe von 3600 Metern im Studerhorn
ausgipfelt, sind seine Wurzeln, und zwischen dem mehr-
genannten Rothhorn und dem nun neu hervortretenden,
gerade westlich von diesem gelegenen Walliser Roth-
horn wälzt er sein Eis nach dem Galmi hinab, um
schliesslich im Viescher Gletscher zu enden. Pa-
rallel mit dem Oberaarjoche und ihm gerade west-
lich gegenüber, erhebt sich ein neuer Sattel, und zwar
etwas höher als unser Joch: der Rothhornsattel oder.
- 21 -
wie meine Führer ihn nannten, der rothe Ecken. Da
links im Süden die Ausläufer des Berner Rothhoms
und des Walliser Rothhoms ziemlich nahe sich begeg-
nen, ja, vom Joche aus gesehen, fast ganz zusammen
zu gehören scheinen, so bildet dieser meines Wissens
noch namenlose Gletscher einen eigentlichen Eis-
kessel, der in dem Augenblicke, wo wir seiner an-
sichtig wurden, eine um so unwirthlichere Figur machte,
als die Sonne schon hinter den westlichen Bergen ver-
schwunden war und der Kessel in blassem Schatten
lag. Das Merkwürdigste aber sind die Wände dieses
Kessels. Da wälzt sich rechts die schwer von Firn
beladene Granitmasse, nachdem sie vom Oberaarhorn
herabgestiegen, bleich und weiss zum Studerhom em-
por, um auf der andern Seite noch einmal zu sinken;
dann aber sucht sie zum letzten Mal, mit angestrengter
Gewalt, in die Höhe zu gelangen. Nach kurzem Kampfe
schüttelt der Granit Eis, Firn und Schnee, ab, und
steigt fast senkrecht, schwarz, wild, zerrissen und form-
los in die Luft bis zur Höhe von 4275 Metern (13,160
Fuss): — das Finsteraarhorn. Von hier gesehen,
ist es ein fast gräulicher Berg und trägt er seinen un-
heimlichen Namen mit Recht. Von dieser Seite ist es
keine Möglichkeit, seine Spitze zu gewinnen, da häuft
sich senkrecht Klippe auf Klippe, da kommt selbst
die Gemse nicht weit, und Alleinherr ist der Adler, der
Lämmergeier. In südlicher Richtung entsendet das
Finsteraarhorn eine dunkle Granitkette, die sich beim
rothen Ecken tief genug senkt, um dem Eise des na-
menlosen Gletschers zu gestatten, dass es beinahe dem
jenseits vom Viescher Gletscher heraufstrebenden
Schnee die Hand reicht. Allein kaum hat sich der
Felsenkamm so weit erniedrigt, so scheint er sich des-
sen zu schämen und treibt seine Massen noch einmal
. — 22 —
grad in die Höhe. Hier steht das 3549 Meter (10,924
Fuss) messende Walliser Rothhom. Aber wie anders
sieht dieser Berg aus, als sein stolzes Gegenüber, das
Finsteraarhorn! Er bildet an seiner nördlichen Ab-
dachung, eben gegen das Finsteraarhorn gewendet, eine
ausserordentlich steile Scheibe, nicht unähnlich dem
Eiger in Grindelwald, nur dass, wie dieser ein nakter
Felsen, das Rothhom vom reinsten Schnee bekleidet
ist, dann auf einmal erfolgt nahe der Spitze ein ge-
waltiger Riss horizontal durch die Schneewand, und
hinter dem Bergschrunde, der durch diesen Riss er-
zeugt wird, taucht das letzte Fragment des Berges als
ein felsiger Obelisk empor. Dieser Berg ist ungewöhn-
lich schön und eigenthümlich, doppelt schön im Con-
traste zum rauhen Herrn dieser Bergwelt, dem Finster-
aarhorn. '
Wenn nun aber auch Finsteraarhorn und Walliser
Rothhorn mit ihrem vorliegenden Eiskessel vollkommen
geeignet wären, den staunenden Beschauer zu über-
sättigen, so nehmen sie doch nicht alle Aufmerksamkeit
in Beschlag. Die Natur ist hier so freigebig, su über-
schwänglich im Colossalen, dass sie noch weiter im
Westen, links hinter dem Rothhorn hervor, das Wanne-
horn aufsteigen lässt, einen der Gipfel der Walliser
Viescher Hörner, deren nähere Bekanntschaft wir
später machen werden. Das Wannehom, ein Bursche
von 3717 Metern (11,441 Fuss), machte so gewaltige
Miene, dass ich im ersten Augenblick in ihm das
Aletschhom, den Zweiten der Berner Alpen, zu finden
glaubte. Es war freilich ein Irrthum, allein 3717 Meter
bleiben aller Ehren werth, und das muss man dem
Wannehom lassen, es versteht von dieser Höhe aus
sich ganz prächtig auszuspreizen.
Was soll ich noch davon sagen, dass zuletzt im
— 23 —
südwestlichen Strich, links am Walliser Rothhorn vor-
bei, über die untere Region des namenlosen Gletschers
hinaus, noch einmal eine Femsicht sich aufthat und
der Blick an die wohlbekannten, pompösen Gestalten
des Weisshorns, des Matterhorns und der Mischabel
fiel?
Der Eindruck, den die eben skizzirte Welt auf
uns machte, war ein so überwältigender, dass er uns
eine volle Stunde an das Oberaarjoch fesselte. Was
aber alle den Glanz und die Herrlichkeit auf den
Gipfelpunkt hob, das waren die wechselnden Beleuch-
tungen. Was nur immer ein wolkenloser Juliabend an
Glut und Farbe zu erzeugen vermag, an jenem Silber,
das aus dem schmelzenden Firnschnee blitzt, an goldi-
gen Abendsäumen, bis hinauf zum rothen, flammenden
Alpenglühen: wir haben es in dieser Stunde genossen,
Eins um das Andere, und eine gute Weile sogar Alles
auf einmal. Als die kleineren Berggipfel des Ostens
von der letzten Glut angehaucht waren, um von einem
Augenblick auf den andern zu erlöschen und die kalte
Blässe der Dämmerung anzuziehen, lächelte drüben im
südlichen Wallis das schimmernde Weisshom noch so
hell und silbern in's Land hinaus, als glaubte es sich
einen ewigen Tag beschieden; unsere Berner in näch-
ster Nähe aber glühten zu gleicher Zeit in voller
Pracht.
Die vorhin beschriebene Firnscheibe des Walliser
Rothhoms stand eben in warmen Flammen, als wir
uns wieder auf den Weg machten, gerade diesem Hom
zu, um an seinem Fusse, wo der Rothhomsattel es mit
der Finsteraarhornkette vermählt, ein Nachtquartier zu
suchen. Wir stiegen schnurgerade westlich nach dem
namenlosen Gletscher hinab und trafen auf demselben
ansehnlich mehr Schnee, als auf dem Oberaargletscher.
— 24 —
Dieser Kessel scheint aber auch recht dazu angethan,
ein Schneesammler erster Sorte zu sein; was die der
Sonne zugekehrte Abdachung in schönen Wochen zu
schmelzen vermag, häufen sicherlich in stürmischen
Tagen Ost, Föhn und West aufs Reichlichste wieder
auf. Nach der Wärme und Farbenpracht, die uns auf
dem Joch entgegengestrahlt, war der Gegensatz um so
schärfer, den wir im Gletscher erfuhren. Die Abend-
kühle machte sich empfindlich geltend, und die Eis-
dünste, die aus den Verliessen des Gletschers durch
den Schneeteppich heraufstiegen, gewannen nach und
nach die Alleinherrschaft. Als wir etwas nach 8 Uhr
die Mitte des Gletschers erreicht hatten, wo man zum
Rothhornsattel hinauf zu steigen beginnt, bewegten wir
uns bereits in so energischem Schatten, dass er der
Nacht sehr nahe verwandt erschien. Die Scheibe des
Rothhorns war längst verblasst, allein stets noch bannte
sie einen Tagessclümmer an ihre weisse Fluh, und
gleichzeitig begann da und dort ein Sternlein am ge-
dämpften Abendhimmel hervorzublitzen.
Um 9 Uhr endlich erreichten wir den rothen
Ecken, den Rothhornsattel. Es scheint mir ein Name
so berechtigt zu sein wie der andere. Ein Sattel ist
es in bester Form, nur mit etwas hartem Gneissschiefer
gepolstert. Wenn meine Phantasie sich mich ein wenig
als Riesen denken will und die nebenan ragenden Berge
ein bischen verzwergt, so sitze ich im prächtigsten
türkischen Sattel mit hoher Rückenlehne, meine Waden
aber berühren links und rechts vergletscherte Weichen.
Denn wie von Osten der eben überschrittene namen-
lose Gletscher zum Sattel heraufstrebt, so steigt an der
westlichen Abdachung eben so bald und nur noch
steiler das Eis zum mächtigen Viescher Gletscher hinab,
der im Halbdunkel der sternhellen Nacht fast grausig
— 25 —
dalag. Aber wie gesagt, auch die bescheidenere und
realistischere Namenclatur der Führer hat ihren trifti-
gen Sinn ; denn wenige Schritte von der Stelle auf dem
Sattel, die wir zum Nachtlager wählten, gestaltet sich
der letzte Ausläufer der südlichen Finsteraarhomkette
zu einer sehr scharfen Kante oder Ecke von röthlichem
Granit.
Nachdem ich von Bern weg 31 Standen auf un-
unterbrochener Reise, und die ganze Gesellschaft von
Innertkirchen weg 21 Stunden auf dem Marsche ge-
wesen, war es den Guten wohl zu gönnen, dass sie
wussten, wo für die nächste Nacht ihr Haupt hinlegen.
Vor Allem aber verlangte der Hunger sein Recht, und
man packte mit Behagen die kalte Küche aus. Dazu
floss der wärmende Rothwein sammt einem höchst
willkommenen Gletscherwasser, das sich in der Nähe
fand. Dann wurde die Fussbekleidung gewechselt, und
auch dies that Noth, denn die Strümpfe hatten im
langen Schneewaten halbe Bäche eingesogen. Während
ich dieser trocknenden Verrichtung oblag, mauerten
die Führer emsig an unserem Obdach. Der Sattel ist
sehr schmal und kurz, links und rechts betritt man
sofort steil abfallende Schnee- und Eisfelder, vorne den
zum Rothhorn aufsteigenden Schnee, und hinten steht
nach wenigen Schritten schon der speiTende rothe
Ecken. Auch bietet diese Lagerstätte den üebelstand,
dass sie wegen ihrer aus zwei Gletschern aufsteigenden
Kante dem kalten, eisigen Luftzuge Thür und Thor
öffnet. Dagegen besass sie für unseren Zweck auch
eine köstliche Eigenschaft. Der schmale trockene Fel-
senstreifen weist nämlich auf seiner Oberfläche lauter
lockere Schieferplatten, mittelst welcher in kurzer Zeit
kleine Mauern aufgeführt werden können. Dies hatten
sich Vorgänger vor uns schon zu nutze gemacht; es
— 26 —
stand eine hübsche Schiefermauer da, die uns ganz
willkommen kam; allein da sie gegen einen anderen
Wind gerichtet war, als gegen den, welcher uns in der
Nacht zu belästigen drohte, so fugten meine Führer
eilig eine zweckentsprechende Flügelwand auf, und unser
Obdach war fertig. Das gesammte Nachtquartier ge-
staltete sich so: das Schlafgemach — nach zwei Seiten
gemauert, nach den andern beiden Seiten oflfen; die
Matratze — mehrbesagter Schiefer; das Kopfkissen -—
die Reisetasche oder der Tornister; die Bettdecke —
der Paletot und eine leichte kurze Wolldecke; Bett-
xidaux — Felsen und Firnhänge; Bett- und Zimmer-
decke zugleich — der funkelnde Sternenhimmel. Ich
würde Jügen, wollte ich behaupten, in meinem Leben
nicht schon besser gebettet gewesen zu sein; aber
kecklich darf ich auch sagen, dass ich gegen diese
Lagerung nicht das Mindeste einzuwenden fand, ja,
dass sie mir bis zu einem gewissen Grade comfortabel
erschien. Denn, weiss Gott! einen so glänzenden Pla-
fond, wie ihn das stembesäete Alpenfirmament darbot,
kann kein König und kein Kaiser in seine Schlösser
hineinbefehlen. Und wenn es wahr ist, dass der Hun-
ger der beste Koch, dann verschafft die Strapaze das
wohligste Bett.
Bevor ich mich, nach V2IO Uhr, zur Ruhe legte
— die Führer schnarchten schon, die Beine an die
Brust herauf und die Wolldecke über Kopf und Ober-
leib gezogen — , steckte ich noch eine Cigarre an, und
mit ihrem Qualm flogen die Genüsse des Tages sammt
zahllosen Phantasieen und brennenden Erwartungen des
künftigen Marsches in die kalte Gletschemacht hinaus.
Mir auffallend genug, haftete auch jetzt noch ein ge-
wisser Tagesschimmer an der weissen Fimfluh des
Rothhoms, gleichsam um der Nacht, in welche längst
— 27 —
:alle niedere Welt versenkt war, Trotz zu bieten. Gegen-
über im Westen, uns recht nahe, stiegen aus dem nur
matt durch das Dunkel schimmernden Eismeer des
Viescher Gletschers gewaltige Felsenklumpen auf, Firn
auf Gletscher, und Schnee auf Firne thürmend,^ und die
verworrenen Contouren der Nacht s^eichneten die mäch-
tige Gestalt des „Kammes" (11,900 Fuss) noch gewal-
tiger, als sie in Wirklichkeit schon ist. Nach und nach
^ber forderte auch meine Natur den Tribut der Ruhe,
die Augen hatten für heute genug geschaut, ich wickelte
die Beine in die Wolldecke, legte den Kopf auf die
Reisetasche, zog den Hut über das Gesicht und schlief
■ein als ein glücklicher Mensch.
Etwa drei Stunden hatte ich geschlafen, dann aber
litt es mich nicht mehr auf dem ungewohnten und
namentlich sehr kalten Lager. Es strich ein imperti-
nenter Luftzug von Gletscher zu Gletscher über diesen
10,000 Fuss hohen Sattel. Während meine Gefährten
nach wie vor unbeweglich, die Köpfe (praktischer als
ich, weil sie sich durch Wiedereinathmeu des Athems
das Blut wärmer erhielten) in die Wolldecken gesteckt,
dalagen, konnte ich es nicht mehr auf meinem Platze
.aushalten. Ich stand auf, um mich durch Laufen zu
erwärmen. Mittlerweile war der Mond aufgegangen,
warf ein geisterhaftes Licht auf die Firne und ver-
sprach den nächtlichen Spaziergang nur romantisch zu
machen. Aber ach! die Rennbahn war sehr kurz be-
gränzt, sie beschränkte sich eben auf die schmale felsige
Schneide des Sattels, an welchem sich zu beiden Seiten
-die Schneefelder abdachten, und mit diesen wollte ich
während der Nacht keine Bekanntschaft machen. Dazu
— 28 —
noch bot der stehende Körper dem empfindlich scharfen
Luftzuge so viele Breitseiten dar, dass ich sehr bald
vorzog, mich wieder hinter die Schiefermauer zu ver-
kriechen und dort in Geduld, sitzend, hockend, liegend,
bewusst und unbewusst hindämmernd, den Tag zu
erwarten.
Nachdem eine geraume Weile so verstrichen war,
machte ich die tröstliche Bemerkung, dass es einem
der Führer auch nicht mehr viel um das Schlafen zu
Muthe schien. Mit einem in den Bart hinein ge-
brummten Fluch auf die Kälte holte er sein Jagd-
pfeifchen hervor und stopfte es voll. Als ich ihm von
meiner Cigarre Feuer bot, machte ich ihm bemerklich,
wir könnten einander wohl die lange Zeit vertreiben,
wenn er mir eine hübsche Geschichte erzählte, ein
Märchen, eine Sage oder sonst etwas Pikantes aus dem
Gemsenjägerleben. Der Angeredete besann sich eine
Weile, dann hub er mit einem Anfluge von Fröhlich-
keit an:
— Ich weiss was Schönes, das vor Jahren, als ich
noch jung war, ein Grossmütterchen im Dorf an einem
Kiltabend erzählte; aber Ihr dürft mich nicht aus-
lachen, wenn ich schlecht b'richte.
— Warum nicht gar! Heraus mit der Geschichte.
Und nun berichtete er mir, was ich im folgenden
Kapitel in meiner Manier wiedererzählen will.
's schön Anneli.
Vor langen Jahren lebte im Oberland ein Gemsen-
jäger, Namens Kaspar. Er war weder so arm, wie
ein Gemsenjäger von Beruf es gewöhnlich ist, noch so
reich, um dem Geschäfte aus blosser Liebhaberei ob-
liegen zu können. Er ging gerade so zwischen durch,
wie man zu sagen pflegt. Die kleine Alp, auf welcher
er Winters und Sommers hauste, die er frei und ledig
besass, und die paar blanken braunen Kühlein d'rauf,
die ihm tapfer Milch zum Trinken und Käsen lieferten,
reichten just aus, den Kaspar und sein Töchterlein,
's schön Anneli, anständig zu ernähren, besonders da
das Meidschi in der Wirthschaft wacker mithalf. Was
der alte Jäger im Herbst und Winter an Gemsen, an
feinen Bergvögeln und ausserdem an Kristallen ver-
diente, passte zum Aeufiien des Erworbenen. Es heisst
aber, der Kaspar habe ein gut Theil davon extra bei
Seite gelegt, um es dem Anneli aufzusparen für einen
wichtigen Anlass, der. ziemlich häufig eintritt, wenn
die Mädchen einmal tausend Wochen hinter sich haben.
War' just nicht nöthig gewesen, denn 's schön Anneli
— 30 —
konnte iür sich ganz allein als ein gehöriges Kapital
an Leib und Seele gelten, schöner nützt nichts und
braver auch nicht; der brauchte es nicht bange zu
sein, dass sie keinen Mann bekomme, höchstens den
Buben, dass sie vergebens am Fensterladen klopften.
Allein es scheint ^ die Fümehmeren haben es überall
lind hatten es schon vor alten Zeiten so, dass sie mein-
ten, Tugend und Schönheit ständen für sich allein auf
zu schwachen Füssen, die Sache sei erst richtig, wann
ein paar währschafte Geldrollen das junge Leben unter-
stützten, wie man es sonst mit alten Kirschbäumen
macht, die ihre faulen Arme nicht selber tragen können.
Unser Einem gefällt der junge Saft, der frei von Stan-
gen und Gabeln aus dem Boden schiesst, von Jahr zu
Jahr immer tiefere Wurzeln schlägt, aus den Lüften
die Nahrung zieht, die Wetter und Sonnenschein ihm
gerade zuführen, und der im Uebrigen den lieben Herr-
gott walten lässt. ^
Brav war es aber gleichwohl vom Kaspar, dass er
so an sein Kind dachte; denn ich sage noch einmal^
's schön Anneli war ein Goldmeidschi, und einem sol-
chen kann man nie genug Gutes wünschen. Und was.
dann unsern Alten betrifift, so durfte sich nicht leicht
Einer wie er auf die Gemsenjagd wagen. Für's Erste
nämlich besitzt nicht Jeder die nöthige Kraft und Aus-
dauer zu dem bösen Handwerk, und Manchem, der
die Kraft hätte, fehlt es an dem Sinn, das schlaue»
pfiffige Thier in den Schuss zu locken. Und noch
Eins : auch Kraft und Gescheidtheit reichen nicht immer
aus; in den Gletschern und auf den Hochfirnen hausen
oft tückische Geister und kriegen Einen d'ran, wenn
man s am wenigsten denkt. Gegen diese hilft nur ein
gutes Gewissen; wer nicht sauber über's. Nierenstück
ist, bleibe von den Gegenden fern, sonst packt ihn
— 31 — •
irgend ein Kobold und verschwindet mit ihm im tief-
sten Bergschrund. Im Kaspar war Alles beisammen,
der starke Mann, der kluge Mann imd der brave Mann;
und wo er ging und stand, wo er an Felsen kletterte
und über Schneefelder glitt, da flog der Gedanke an
's schön Anneli als Schutzgeist mit.
Einmal ging es dem Kaspar doch fast übel. Zwei
Tage und zwei Nächte war er auf den Gletschern her-
umgestrichen, ohne ein Thier in den Schuss zu be-
kommen. Als er am dritten Morgen erwachte, blies
von den Walliser Alpen her, von den untern nämlich,
die gegen den Montblanc hin liegen, ein Wind, welcher
dem erfahrenen Jäger sagen musste, heut' sei es aus
mit der Jagd, er solle sich einfach nach Hause trollen,
denn am Nachmittag gebe es schlimmes Wetter. Wie
es aber den Gemsenjägern geht, wenn sie lange auf
der Fährte waren, ohne etwas zu erbeuten, so ging's
auch dem Kaspar: er war wild, und er beschloss, dem
Himmel zu trotzen. Am Oberaarhorn oder, wenn's da
nicht zog, ganz sicher drüben an den Walcher Hörnern
musste er was finden bis zum Mittag, und hatte er
sein Gamschi, dann frug er, blos um nach Hause zu
kommen, keinem Gott mehr und keinem Teufel etwas
nach. Wie doch die sonst so klugen Jäger gelegent-
lich dumm sein können, wenn sie die Leidenschaft
packt! Wusste Kaspar nicht, dass die Gemsen noch
viel bessere Fühlung vom kommenden Wetter haben,
als die Menschen? Wusste er nicht, dass die feinen
Thierchen gleich den Menschen lieber im Sonnenschein
spazieren, als im Nebel, und sich so gut zu verstecken
wissen, dass man sie vom Erdboden verschwunden
glaubt, wenn ein Sturm im Anzug ist? ja, Kaspar
wusste das recht gut, wenn er den Verstand beisammen
hatte, allein die Leidenschaft reisst eben den Verstand
— 32 —
auseinander. Kurz und gut, Kaspar fand nichts am
Oberaarhorn, weder auf der Grimselseite, noch auf der
Seite des Finsteraarhorns. Jetzt rutschte er ganz ein-
fach nach dem Viescher Gletscher hinunter, um über
denselben nach dem bessern Jagdrevier zu gelangen.
Er lief, was die Lunge nur aushalten mochte, quer
über die geiährlichsten Stellen hin, wo die Spalten bloss
mit leichtem Schnee verdeckt waren. Schon hatten
sich alle Bergspitzen in dichten Nebel gehüllt, die Luft
war feuchtwarm, der Schnee erweicht. Kaspar sank
mit den Füssen alle AugenbKcke ein und spürte sie
wiederholt im leeren Kaum eines Schrundes, dann
warf er sich aber jedesmal mit der Gewandtheit des
ächten Jägers auf Brust nnd Bauch, und kroch, den
Alpstock in gleicher Richtung vor, sachte über den
verrätherischen Schnee, um immer wieder auf festen
Eisgrund zu gelangen. Wohl zwanzig Mal passirte es
ihm so. Die Leidenschaft aber hatte ihn unterdessen
völlig in ihre Gewalt bekommen, er gewahrte kaum,
dass die Nebel bereits von den Bergspitzen und Firnen .
auf den Gletscher herabstiegen und in wenigen Augen-
blicken das ganze Revier in ein ungeheures graues
Luftmeer verwandelt haben mussten. Schon waren die
ersten Flocken, die Vorposten eines währhaften Schnee-
gestöbers, im Anzug, aber Kaspar achtete auch dieser
nicht und wollte um jeden* Preis den Gletscher über-
setzen. Oder vielmehr, er bemerkte es nur zu gut,
allein dies fachte die Leidenschaft zu gotteslästerUcher
Wuth an, und mit einem Fluch wollte er seinen Willen
erzwingen. Eben stand er vor einer Stelle, wo durch
eine dünne Schneeschicht hindurch eine breite Spalte
gähnte; der nüchterne Verstand hätte ihm hundertmal
gesagt, hier sei nicht durchzukommen, aber die Wuth
hatte schon allen Verstand übertobt: mit einem „In
— 33 —
Gottes und aller Teufel Namen!" nimmt er ohne Be-
sinnen einen Satz, wie er meint, über die Spalte hin-
aus, und — krach! bricht es links und rechts, auf
allen Seiten dröhnend ein. Kaspar stürzt in die kalte
grüne Eisschlucht, der Himmel weiss wie tief, und
rauschend rollt ihm der umliegende Schnee als Lawine
nach.
Da lag der Aermste lebendig begraben, und es
mochte wohl lange dauern, bis er sich aus der Betäu-
bung des schrecklichen Sturzes erholt hatte. Wie er
erwachte, befand er sich in einer hochgewölbten Eis-
grotte, die dem schönsten Feeenpalast Ehre gemacht
haben würde. Wände und Decke waren glatt geschlif-
fen wie vom feinsten Marmor, der Marmor aber war
luftiges Himmelblau, durchädert von meergrünen Strei-
fen. Hinten in der Grotte rieselte ein Bächlein in
muthwilligen kleinen Sätzen von der Oberwelt herab,
grünes Wasser auf hellem Azur. es war wunder-
schön, aber kalt, entsetzlich kalt. Noch entsetzlicher
war es dem alten Jäger um's Herz; er fühlte, sein
letztes Stündlein habe geschlagen; die Füsse waren in
das Wasser jenes Bächleins getaucht, sie begannen zu
erstarren, und er hatte nicht die Kraft, sie herauszu-
ziehen. Wo er mit den Händen tastete und in die
Höhe zu klettern suchte, gUtten sie am starren ge-
schliffenen Eise ab. Ein Hohu war die ganze Zauber-
pracht der Grotte, ein strahlendes Grab. Da konnte
höchstens ein Wunder helfen. Das muss man dena
Kaspar aber lassen: er schickte sich in das Unglück,
wie es einem tapfem Manne ziemt. „In Gottes Na-
men," sagte er zu sich, „gestorben muss es doch ein-
mal sein, und da sind am Ende diese blauen und
grünen Kristallwände ein viel schönerer Todtenbaum,
als die sechs tannenen Bretter, in welchen sie Einen
Rothf FinBteraarhomfahrt. 3
— 34 —
auf den Kirchhof von Meiringen tragen. Zuletzt bin
ich doch selbst an meinem Unglücke Schuld; was
brauchte ich so unsinnig zu laufen? was hatte ich über-
haupt in's Wallis hinein zu wildern? Es ist dir recht
geschehen, Kaspar, und nun schliess' deine Rechnung
in Gottes Namen! Aber 's schön Anneli, mein
Kind?" Bei diesem Gedanken hörte plötzlich alle Fas-
sung auf. Den starken Mann schüttelte ein gewaltiger
Fieberfrost, dass Leib und Seele zitterten und Thränen
und Jammer in einem Strom sich ergossen. „0 Anneli,
mein Kind, mein liebes Kind! Wie wird es dir sein,
wenn kein Vater mehr heimkehrt und du allein, mutter-
seelenallein, noch übrig bleibst? Wie wird das heitere
Roth von deinen Wangen fliegen und Platz machen dem
Abbild jener weissen Rosen, aus denen man Todten-
sträusse flicht! 0, wie wird er brechen, der helle
Strahl deines Auges, das mich so oft entzückte, dieser
Spiegel fröhlicher Jugendlust, der Abglanz deines reinen
Herzens! Und die armen Kinder vom Thal, die an
schönen Sonntagen zu uns heraufsteigen und denen du
dann schöne Alpblumen schenkst, dem bravsten ein
seltenes Edelweiss, denen du Geschichten erzählst und
Lieder singst — ach, sie werden nun nichts mehr von
dir vernehmen, als etwa ein altes klagendes Friesen-
lied. — Gott schütze dich, mein Kind! Mich aber
hebet weg von der Qual dieses Gedankens, von der
Folter dieses Lebens, ihr Geister, gute oder böse, die
ihr hier hausen möget!"
Bei diesem Ruf erscholl ein gewaltiger Krach, wie
im Winter, wenn die Gletscher arbeiten und an ihrer
Gestalt für den folgenden Sommer zimmern. Ver-
schwunden war das Bächlein, das eben noch über die
Eiswand stürzte, und die Wand mit ihm. Eine neue,
viel grössere Grotte hatte sich aufgethan, und an ihrem
— 35 —
Eingange stand — der Berggeist. Der ganze Leib war
angethanmit einer Rüstung von Gletschereis, das jeden
Augenblick vom Azur zum Meergrün und vom Grün
zum Himmelblau hinüberspielte ; um die Schultern hing
ein Talar von blendendem Firnschnee, aus dem un-
zählige diama,ntene Lichtfunken strahlten; auf dem
Haupte trug er eine graue Felsenkrone, und den Gra-
nit überragte flockiger frischgefallener Schnee. Das
Antlitz des Berggeistes war die leibhafte Majestät, ge-
paart mit unaussprechlicher Milde. Nachdem er eine
Weile halb ernst, halb lächelnd den Jammernden an-
geblickt, hub er an:
„Wieder eines dieser thörichten Menschenkinder,
welche die Leidenschaft in's Verderben stürzt. Was
focht Dich auch an, Kaspar? Warst sonst ein kluger
Mann, und rennst so unsinnig über die Gletscher, von
denen du wissen solltest, dass sie keine Tanzböden
sind. Warst sonst ein braver Mann, und wilderst in
Gebiete hinein, die Dir nicht gehören. So geht der
Teufel mit den Menschen durch, wenn er ihnen Tugend
und Verstand geraubt."
„„0 grosser Geist,"" fiel Kaspar dem Berggeist
in's Wort, „„quäle mich nicht noch mehr! gib mir
den Todesstoss, und ich bete Dich an im Sterben.""
„Damit hat es noch gute Weile, Mensch. Es thäte
mir leid um Dich, und noch mehr um Deine schöne
Tochter, von welcher ich weiss, dass sie Dich lieb hat.
Es wäre schade um ihre hübschen Bäcklein, wenn sie
sich schon abhärmen müsste. Die Weiber der Menschen
werden so schon früh genug alt; was gerathen ist, zu
dem muss man Sorge tragen. Du hast soeben den
guten und den bösen Geistern gerufen, dass sie Dich
wegheben möchten; es wäre anständiger gewesen, die
bösen aus dem Spiel zu lassen, sie sind ohnehin
— 36 —
geschwind genug bei der Hand, wenn die guten fehlen.
Darfst dem Himmel danken, dass ich, der ich der
gute Geist bin, Deinen Ruf zuerst vernahm, sonst
war' es Dir wahrscheinlich schlecht ergangen. Habe
unterwegs^ ein Dutzend Kobolde von der schlimmsten
Sorte wegfegen müssen, sie zeigten nicht übel Lust,
über Dich herzufallen. Mensch, ich will Dich retten
und unversehrt wieder auf die Oberwelt schaffen."
„„Habe Dank, habe Dank, o grosser Geist!
Anneli, mein Kind, dass ich dich wiedersehen soll!""
„Allein, guter Mann, schon unter euch Menschen
ist ein Dienst des andern werth, wie viel mehr zwischen
Mensch und Geist. Ich erwarte auch etwas von Dir."
„„Was könnte es sein? Ich bin ein armer Mann
und habe nichts, was Deiner Herrlichkeit ziemte.""
„Nein, Mensch, Du bist ein reicher Mann, Du
besitzest das schönste Kapital im ganzen Oberland, und
dieses Kapital ist Deine Tochter. Wären Du und
Deine Brüder nicht störrige Freiheitsmänner, ich würde
Deine Tochter zur Königin des Oberlandes erheben.
Aber wart', ich mache sie gleichwohl dazu. Mit einem
Wort, Kaspar: ich gebe Dir das Leben und Du gibst
mir Deine Tochter."
„„Gilt nicht. Geh', und lass' mich sterben.""
„Hat man je einen halsstarrigeren Menschen ge-
sehen? Aber so sind diese Bemer. Was missfällt Dir
denn an dem Handel?"
„„Ich sollte mein Leben dadurch erkaufen, dass
ich mein Kind unter die Geister schickte. Daraus wird
nichts. Geh', und lass' mich sterben.""
„Alter, das war brav gesprochen. Nun verdienst
Du doppelt, dass ich Dich rette. Ich sehe schon, ich
muss Dir eine Goncession machen, es läuft ohnehin bei
den b'hebigen Oberländern selten anders ab. Wohlan,
— 37 —
ich lasse es darauf ankommen, dass Deine Tochter mich
wül; weist sie mich ab, dann werde ich es Dir nicht
nachtragen, Du aber sollst auf keine Weise, weder
durch Wort noch Geberde, sie abzumahnen suchen.
Bist Du's so zufrieden?" •
„ „Topp ! — Aber als ehrlicher Mann muss ich Dir,
grosser Geist, zum voraus sagen, dass sie, ein ehr-
sam bescheidenes Mädchen, nie einen so gewaltigen
Herrn nimmt.""
„Topp 1 — Werden sehen, wer ^letzt lacht. Zwar
gehe ich da einen schlechten Schick ein; denn ich
fürchte, wenn ich mein Element, die Gletscher, verlasse
und als Mensch zu euch Menschen niedersteige, so
werde ich auch eure Leidenschaften und Schwächen
mit in den Kauf nehmen müssen. Doch ich hoffe,
ein Rest meiner Macht wird mir auch in der Verwand-
lung bleiben, und auf alle Fälle ist Dein Kind ein
Wagniss werth. Richte ich gar nichts aus, so betracht'
ich's am Ende als lustiges Abenteuer. Noch einmal
Topp! und jetzt mache, dass Du fortkommst; hast
mich schon zu lange aufgehalten. Mein kleiner Finger
sagt mir, es habe soeben Einer in Grindelwald drüben
die gleiche Dummheit begangen wie Du. Muss nach-
sehen. Ist es ein braver Mann, dann will ich ihm
helfen; ist es ein Schuft, dann geh' er zu Grunde.
Adieu."
Sprach's und verschwand mit einem Krach, zehn-
mal stärker, als der sein Erscheinen begleitete. Kaspar
aber fühlte sich von rosenrothen Wolken in die Luft
gehoben und über Gletscher und Berge hingetragen.
Und wie die Wolken verflogen, stand er auf seiner
Alp, wenige Schritte vom Heimet. Sein Häuschen
glänzte lustig in der Abendsonne. Heraus aus der
Hütte flog 's schön Anneli mit jenem Jauchzen, das
— 38 —
• der gepressten Brust entströmt, stürzte dem Vater in
die Arme und bedeckte sein Gesicht mit heissen Küssen.
„Gott Lob und Dank!" rief sie unter Jubel und Seuf-
zen, „Gott Lob und Dank, dass Du wieder hier bist.
Mir schwante, es sei Dir ein Unglück begegnet. Nein,
es ist nicht wahr; ich habe Dich noch, ich habe Dich
noch, mein heber, lieber Vater!" Kaspar drückte das
Kind nicht weniger warm an's Herz, aber kein Wort
kam in diesem Augenblick über seine Lippen. —
Nicht lange nach dieser Begebenheit war grosser
Herbstmarkt in Meiringen, ein Hauptfest für die Has-
ler, jung und alt, Männlein und Fräulein. Auf diesen
Tag dieses Jahres hatte der Jäger Kaspar seinem An-
neli den ersten Tanz versprochen, denn er huldigte
dem löblichen Grundsatz, dass ein Tänzchen in Ehren
Niemand verwehren solle. Es gibt dabei aber auch
nichts Lieblicheres, als so ein frisch ausgewachsenes
Gusti, das am Leiblichen alle Tugenden seines Ge-
schlechts entfaltet, im Herzen noch Kind ist und un-
bewusst die helle Unschuld aus den Augen strahlen
lässt. Schon der blosse Anblick rührt den jungen
Leuten das Blut auf, manchmal sogar noch den alten,
und wer das Glück hat, das Meidschi zuerst im Arm
zu wiegen, möchte g'rad' drei Tänze auf einen Gump
mit ihr abpolken. Daneben ist es gar gleitig vom
Schöpfer eingerichtet, dass diese Tausendsasächen auch
ihre Freude an dem Gestampf haben und fast noch am
liebenswürdigsten sind, wenn sie recht unbeholfen thun
und aus Schüchternheit kaum ein Ja oder Nein her-
ausbringen. Nur Geduld; nachher wird ihnen das
Zünglein schon geläufig.
Wie ein solider Bauer an keine Lustbarkeit geht,
ohne wo möglich ein vortheilhaftes Geschäft mit zu
verbinden und auf diese Weise sein ökonomisches
— 39 —
Gewissen zu beschwichtigen, so hatte Kaspar auf jenen
längst vorausbestimmten Tag ein tüchtiges Kühlein
herangezüchtet, ja Anneli hatte es eigentlich selbst
erzogen und der Vater versprochen. Alles, was über
den gewöhnlichen Preis würde erlöst werden, solle der
Erzieherin als Lohn gehören. Anneli hatte redlich
seine Pflicht gethan, und noch etwas mehr, als dies:
es hatte das Thierchen schon von seiner Geburt an
nicht nur rechtschafifen genährt und getränkt, sondern
auch fleissig gestreichelt, getätschelt, an der Stirne
gekrabbelt und artig mit ihm gesprochen ; und wenn
ein solches Geschöpf sieht, dass man menschlich mit
ihm umgeht, dann gedeiht es noch einmal so gut wie
sonst, insonderheit so ein g'merkiges Oberhaslerli.
Anneli liess es sich nun aber auch nicht nehmen, ihr
feines braunes Pflegekind höchstselbst zu Markte zu
führen, und machte daraus, ohne es zu ahnen, zum
voraus einen bessern Schick, als der alte Kaspar wohl
träumte. Wie hätten sich's die Beiden in ilirer Be-
scheidenheit auch einbilden können, dass das Thierchen
nur allein durch die holde Nachbarschaft um wenig-
stens 10 Kronen im Werthe stieg?
Es war ein Anblick, würdig eines Malers, me sie
in Zürich unten einen haben sollen — ich glaube, er
heisst Koller — , als das kleine Trüppchen am frühen
sonnigen Morgen die Alp verliess. Voran trippelte 's
schön Anneli im besten Putz. Besonders sauber sah
über der Brust das Zuhisteckerli von blitzneuem rothem
Tuch aus, gerade recht gewölbt, nicht zu viel und
nicht zu wenig, und ein milchweisser Hals tauchte
daraus hervor; das Gesicht sehr wichtig, es verrieth,
dass tausenderlei Gedanken in dem Köpfchen herum-
fuhren, die klaren fröhlichen Augen aber beruhigten,
es sei nichts Schlimmes dabei. Unmittelbar hinterdrein
- 40 —
kam die blank gestriegelte braune Lisi, folgsam und
gescheidt; man brauchte sie gar nicht zu fähren, sie
suchte von selbst so oft wie npiöglich mit der Schnauze
an die Hüfte des Mädchens zu gelangen, um irgend
ein freundliches Wort oder ein Streicheln von seiner
Hand zu erhaschen. Zuletzt schritt in langsameren,
dafür aber auch weit ausholenden Schritten der alte
Kaspar einher, in seine Berechnungen und in die Pfeife
vertieft, die nur dann und wann eine Rauchwolke aus-
stiess; zuweilen aber blieb er auch stehen und guckte
nach den Flühen hinauf, um im Vorbeigang den Schlupf-
winkel irgend einer Gemse zu erspähen. Von dem ver-
wetterten Gesichte hob sich fast feierlich der steife
weisse Hemdkragen ab, an welchem nur das räthsel-
haft blieb , dass er dem guten Manne nicht von unten
herauf die Ohren vom Kopfe schnitt.
Als sie, obwohl lange nicht die Letzten, in Mei-
ringen anlangten, war der Markt schon in vollem
Gange und es herrschte auf demselben ein ganz unge-
wöhnliches Leben. Wie ein Lauffeuer ging von Haufen
zu Haufen, von Gruppe zu Gruppe die Frage: „Habt
ihr den reichen Italiener gesehen?'' Wer ihn noch
nicht gesehen, dem wurde bereitwilligst die Belehrung
zu Theil: „Es ist ein steinreicher Mann, er zahlt nur
in Gold und marktet keine Secunde lang. Er schaut
sich ein Thier an, und verstehen thut er's, denn er
nimmt nur gute Waare aufs Korn, fragt kurz ange-
bunden: Was gilt es? Kommt nun Einer mit Räus-
pern und Scharren und will mit der Sprache nicht
heraus, so wünscht er ihm einen höflichen guten Mor-
gen und spaziert weiter; antwortet Einer dagegen frisch-
weg: 60 Kronen! 80 Kron«n! so sagt der Italiener:
Topp! langt in den Sack, holt das Gold heraus, zählt
noch ein paar Kronen mehr hin und fragt: Seid Ihr
— 41 —
zufrieden? Der Verkäufer ist natürlich sehr zufrieden,
muss lachen über die komische Frage und das blanke
Gold, er antwortet: Ja, Herr! und der Handel ist
fertig. — Mach' hurtig, Köbi, dass Du mit Deinem Muni
auch d'ran kommst, der ist preiswürdig. Ich sage Dir,
so lange Meiringen steht und die alten Mauern von
Resti auf das Dorf herablugen, ist hier noch nie so
schön gehandelt worden. Heut' kann das Tanzen ein
paar Stunden früher als sonst beginnen." Das bejahende
Kop&dcken aller Umstehenden bestätigt dem noch zwei-
felnden Köbi die Richtigkeit der eben vernommenen
Mähr, er zieht darauf seinen Muni mit kräftigem Ruck
von dannen, im Kopf erwägend, wie viel Kronen mehr
er unter sothanen Umständen auf seinen urspriinglichen
Preis schlagen wolle. Weniger gefällt es ihm dagegen,
wie er bei zwei hübschen Meidscheni vorbeizieht und
die eine zur andern sagen hört: „Hast Du den schönen
Italiener gesehen? die den bekommt, hat es einmal
gut." Da brummt der Köbi in den Bart: „Ja neu
unsere Braunchen mag der \Velsche mit über die Berge
nehmen, aber die Mädel soll er hier lassen, sonst pfeif
ich ihm in alle seine Goldvögel." Man merkt, der
Köbi ist noch ledig, aber er ist halb und halb auf der
Weibe, und zu diesem Geschäfte dient allerdings eine
grosse Auswahl besser, als eine kleine.
Endlich debouchirte, wie man in der Garnison zu
sagen pflegt, auch die kleine Kolonne des Kaspar auf den
Markt, und Alles machte respektvoll Platz. Für's Erste
nämlich mochte man allgemein den braven Jäger wohl
leiden, zweitens galt sein Kind unbedingt als das famo-
seste Meidschi im Oberhasli, und Jedermann war be-
troffen darüber, wie das Blitzding im letzten Sommer
noch zugenommen, während man vorher doch glaubte,
schöner sei nicht mehr möglich. Und was ihr Viehlein
— 42 -
betrifft, so konnte Einer,- wenn er nur halbwegs gut
hörte, sogleich das Gemurmel vernehmen: Das Stück
gibt doch dem ganzen Markt den Bogen, es ist es
toU's ChüeU!
Natürlich war der reiche Itahener auch nicht mehr
weit, da er sich so gut auf die Waare verstand. Kich-
tig sah man ihn schon am Platz, er pressirte aber
diesmal nicht halb so stark wie früher, und seine Auf-
merksamkeit war augenscheinlich getheilt in die schöne
Waare und in die schöne Herrin. Fast schien es, der
Mensch und der Viehhändler kämen mit einander in
Conflikt. Wie der Italiener aber bemerkte, dass der
alte Kaspar in ein ernsthaftes Gespräch über das Wetter
verwickelt war, begann Signor seine Verhandlung. Der
schlanke junge Mann mit den kohlrabenschwarzen Haa-
ren und den flammenden Augen hatte jedoch kaum die
Lippen geöffnet, so ging mit dem Anneli eine merk-
würdige Veränderung vor: sie ward beim ersten Blicke
des unternehmenden Fremden f ürzündigroth , so dass
eine Weile Kopf, Hals und Brusttuch eine und dieselbe
Farbe zeigten. Das schreckte aber den Italiener durch-
aus nicht ab; im Gegentheil, er begann:
„Was gilt Dein Stücklein, schönes Kind?"
AnneH war nicht im Stand, eine Antwort zu geben,
sie schlug in unüberwindlicher Verschämtheit die Augen
zu Boden.
„Ich sehe," begann der Fremde wieder, „Du bist
in dem Geschäfte noch nicht recht bewandert. Es ist,
scheint es, an mir, das Angebot zu machen. Zwei-
himdert Kronen — bist Du's zufrieden?"
„„Herrjemine! Hundert sind schon zu viel.""
„Nein, Kind, das eine Hundert ist nicht zu viel
für Dein Musterstückchen, das ja die allerfeinste Race
darstellt, wie ich sie noch nie so vollkommen gesehen.
— 43 —
Und was das andere Hundert betriflft, so rechne ich,
ich habe in Mailand schon manchesmal eben so viele
Doublonen für ein schönes Gemälde ausgegeben, und
das liebHchste Kunstwerk, das mir in meinem Leben
noch vor Augen getreten, bist doch Du, Annina.
Nimm's nur. Und wenn Du auch noch ein Verdienst
dabei haben willst, so lasst uns alsogleich den Kauf mit
einem flotten Tanze besiegeln. Horch, dort drüben
fiedeln sie schon, und die lustigen Hasler jodeln und
stampfen dazu, dass es eine Art hat."
Dies Alles sagte der Fremde mit einem so feinen
Anstand und so gewinnender Stimme, dabei spielte
aber so etwas Geheimnissvolles mit, dass e^ dem An-
neli wieder grün und blau vor den Augen flimmerte
und alle seine Gedanken erstarrten gleich dem Kohl-
häschen vor dem Rachen der Schlange. Die Schlange
jedoch weidete ihre Blicke mit hellem Genuss an dem
wieder weiss gewordenen Pelzchen. Gottlob trat nun
der Vater herbei und ergriff, als ihn die Umstehenden
von dem verdächtigen Handel unterrichtet hatten, das
Wort:
'Herr Italiener! wollt Ihr mein Kühlein, so zahlt,
was es werth ist, nicht mehr und nicht weniger. Dann
nehmt das Thier und lasst uns in Ruh. Hier wird
sauber gehandelt. Meint Ihr etwa, dass Ihr mit Euren
Doublonen hier oben Alles kaufen könnet, so möchte
es Euch passiren, dass '
Plötzlich stockte das geläufige Wort, und soweit
dies an einem verwetterten Gemsenjäger möglich ist,
lief es in diesem Augenblicke dem Kaspar eiskalt den
Rücken hinauf; denn seine Augen hatten im^ Italiener
den drohenden Blick des — Berggeistes erkannt.
' Nimm das Geld, Anneli, und folg' ihm;
ich begleite Euch.'
— 44 —
Jedermann wunderte sich, wie das Anneli ohne
Widerstreben gehorchte; denn wenn man sie als ein
sehr folgsames Kind kannte, so wusste man doch auch,
dass sie am rechten Ort gelegentlich ein Köpfchen
zeigen konnte; und hier war der Ort dazu, da der
Kaspar sich schwach benahm, gar nicht nach seiner
sonstigen Art. Ich habe einmal einen Helgen gesehen,
auf dem stand am einen Ende ein nackter kleiner Bub,
mit Flügeln auf dem Rücken und einem Köcher über
der Schulter; er hatte eben mit einem kleinen Bogen
auf ein am andern Ende schmachtend daliegendes
Meidschi geschossen und der Pfeil stack dem unglück-
lichen We^en mitten im Herzen. Ein G'lehrter er-
klärte, der Helgen zeige, wie die Mädchen verliebt
werden, und nun glaub' ich fast, das Anneli hatte auch
einen Pfeil in der Brust, wenigstens die stechigen Blicke
des ItaUeners konnten gar wohl solche vorstellen. Ge-
nug, das Meidschi folgte willig wie ein Opferlamm,
wenn auch blass wie Schnee. Doch der erste Tanz
schon erwärmte ihre Wangen, und beim zweiten imd
dritten ging's noch besser, denn der Italiener tanzte
wie .ein Gott, und Anneli's Beine waren auch nicht faul.
Es war überhaupt ein Paar zum Hinwerden. Die Buben
mochten noch so jaloux sein auf den Fremden, im
Geheimen mussten sie sich doch gestehen, dass sie
sammt und sonders plumpe Löhls seien gegen den
gewandten Herrn, und dass zum schönen Anneli eigent-
lich etwas Apartiges gehöre.
Als ein halbes Dutzend Tänze vorüber waren, führte
der Italiener sein Gespan in einen der Nebenräume,,
wo man trinkt; er bestellte nicht vom Schlechtesten
und verlegte sich nun aufs Plaudern. Das Anneli
hatte nach und nach seine Sprache recht gut wieder
gefunden, sogar auch jenes verzauberte Lächeln, mit
— 45 — ^
dem es den Knaben zusetzen konnte, vielleicht ohne
es nur zu wissen. Der Kaspar hatte sich unterdessen
längst zu den Alten gesetzt, um ruhig die Weltläufe
zu verhandeln, wie die Kunde sie stossweise in diese
Thäler heraufbrachte; oder wenigstens that er der-
gleichen, als ob er ruhig wäre. Der Italiener, um
wieder auf den zu kommen, sprächelte dies und das,
lauter unverfängliches Zieug, und das Anneli ging mun-
ter darauf ein. Endlich begann er aber doch mit
Wichtigerem, obschon der Ton seiner Stimme es nicht
im mindesten verrieth. Es heisst überhaupt, die Wel-
schen sollen in der Verstellung stark sein.
„Wie wär's, Annina, wenn Du mit mir über die
Berge kämest, in das schöne Land, wo ich zu Hause
bin? Ich würde Dich zur reichen vornehmen Frau er-
heben, ich würde Dich auf den Händen tragen, und Du
solltest es besser haben, als Gräfinnen und Baronessen."
„„Hi, hi, hi!««
„Du lachst? Ich sage Dir, dass dies mein ganzer
Ernst ist."
„„Aber der meine nur halb.""
„Mädel, mach' mich nicht wild und höre mir recht
zu. Was willst Du Dein schönes junges Leben hier
oben versauern, während Dir das Glück ein Paradies
aufthut? Statt, wie hier, in elender Hütte, sollst Du
in einem marmornen Paläste wohnen; statt der ein-
samen Alp mit ihren kahlen Felsenwänden findest Du
duftige Gärten mit Blumen aller Art, mit Lauben und
Hainen, in denen goldige Orangen prangen; statt der
grauen Nebel und Wolken, welche diese Berge fast
unaufhörlich verhüllen, wölbt sich dort über Deinem
Haupte ein ewig blauer, warmer Himmel. Sei kein
Närrchen, Annina, und sage zu."
— 4G —
„„Sprechen könnt Ihr, Herr Italiener, es vergeht
Einem wie Schmalz auf der Zunge. Ich bitte Euch,
gebt mir Antwort nur auf die eine Frage: was soll
dann aus meinem alten Vater werden?""
„Ah, Du willst Dich nicht von dem Vater trennen?
Das ist schön von Dir. Allein was hindert das? Er
komme mit, und er soll es nicht schlechter haben als
Du."
„ „Gibt es auch Gemsen in Euren Orangenhainen?""
„Du liebe Unschuld, das gerade nicht."
„„Seht, dann kommt halt der Vater nicht, und
wenn der Vater nicht kommt, komm' ich nicht, und
damit ist unsre Rechnung aus. Dank' Euch für alles
Gute, Herr, und glückliche Reis'.""
Bei diesen Worten, die am Schluss nicht ohne
einige Bitterkeit hingeworfen wurden, erhob sich An-
neli, entschlossen, allen weiteren Zudringlichkeiten des
Fremden den Faden abzuschneiden. Nun aber ward
der Fremde zornig wie ein ächter ItaHener. Anneli war
kaum auf den Füssen, so stand auch er auf, fasste das
Mädchen um die Hüfte, gierig wie ein Raubvogel, dem
die Beute entschlüpfen will, und schrie überlaut:
„ „Folgen musst Du mir, einfältiges Ding! und zum
Zeichen, dass Du mein bist, drücke ich Dir den Ver-
lobungskuss auf die Lippen."
Der 'Kuss war aber erst unterwegs und hatte sein
Ziel noch nicht erreicht, als ein derber Klatsch erscholl
und der Allzuhitzige betäubt auf seinen Stuhl zurück-
prallte.
Wenn schon der Blitz in das Haus geschlagen hätte,
so würde er nicht plötzlicher und nicht gründlicher
allen Gesprächen, die im Saal durcheinander schwirr-
ten, ein Ende gemacht haben, als das gellende Geschrei
des Fremden und der Senf d'rauf. Tiefe Stille herrschte
— 47 -
augenblicklich, und Aller Augen waren auf Anneli ge-
richtet, die recht eigentlich majestätisch dastand in
ihrer Wuth, die Fäuste in die Hüfte gestemmt, die
Lippen in einander gekniffen und die grossen blauen,
zornsprühenden Augen unverwandt nach dem Beleidiger
gerichtet. Eine volle Minute dauerte die peinliche
Stille, kein Mensch wagte ein Wort zu sagen, nur der
Köbi und einige seiner Kameraden waren aufgesprungen;
sie zeigten nicht übel Lust, über den Italiener herzu-
fallen; erst wollten sie aber doch wissen, was eigent-
lich los sei, und passten, so zu sagen, mit gespanntem
Hahn auf das I\ommando. Es kam. Kaum war der
Italiener wieder zur Besinnung zurückgekehrt, so wollte
er in bhnder Rachewuth auf Anneli los, die aber tritt
einen Schritt zurück, stampft sich fest und bannt den
Mann mit durchbohrendem BUck auf seinen Posten,
wie man eine wilde Bestie zum Stehen bringt. Noch
einen lautlosen Augenblick, und es klang aus AnneU's
Munde derb und begleitet .von herrschender Geberde:
„„Meiringer Knaben, macht sauberen Tisch!"**
Es bedurfte keines zweiten Befehls, so drangen
die nächsten Knaben auf den Fremden ein, um ihn
mit nervigen Fäusten in's Freie zu befördern. Der
Italiener war jedoch nicht gesonnen, sich so wohlfeil
behandeln zu lassen. Jetzt stand auch er wie ein Held
da, mit fast grässlichem Blick, und in der erhobenen
Rechten blitzte die Klinge eines scharf geschliffenen
Dolches. Himmel! was konnte sich begeben? auf
Anneli's Geheiss! Das nahm dem Mädchen plötzlich
allen Muth, und mit zitternder Stimme rief sie unter
die jungen Mannen:
„„Knaben, lasst ab!""
Diesem Befehle gehorchten die Knaben nicht so
rasch. Ist das Wuhr aufgezogen, dann bricht der
— 48 —
Strom heraus. Schon war der Köbi im Begriff, den
Italiener zu packen, und im gleichen Moment würde
er ganz sicher den Stahl in der Brust gefühlt haben;
da, in der letzten Secunde, stürzt Anneli zwischen die
Beiden hinein, stösst mit der einen Faust den Köbi
bei Seite und fasst mit der andern Hand den Italiener
beim Arme:
„„Platz, Knaben! Platz!""
Das überraschte Volk machte Platz und bildete
unwillkürlich eine Gasse bis zur Thür, eine viel weitere,
als vor der Hand nöthig war. Der beste Pfadschhtten
würde nicht schöner gebahnt haben, als der Respekt und
die Bewunderung, die dem entschlossenen Schritte
des Bergmädchens vorangingen. So kam der Fremde
unangetastet aus dem Saal. Anneli aber, dem begreif-
lich alle Tanzfreude gestört war, eilte, nachdem sie
noch eine kurze Weile den Ausgang gehütet, wie von
namenloser Angst befallen zum Vater, um ihn zu
schleuniger Heimkehr zu bewegen. Ein halbes Dutzend
Knaben Hessen sich, trotz aUer Abwehr, die Ehre nicht
nehmen, den Beiden bis zu ihrer Alp das Ehrengeleit
zu geben, denn es konnte ja Niemand wissen, ob nicht
der Italiener mit seinen Knechten sich in einen Hinter-
halt legen würde, um das Meidschi zu entführen. Die
ganze übrige Nacht patrouülirten die Getreuen in der
Gegend der Alp und kehrten erst mit dem anbrechen-
den Tage wieder heim, stolz darauf, für 's schön An-
neli etwas gethan zu haben. Nöthig war es freilich
nicht, denn der Italiener ist verschwunden, man hat
nie mehr etwas von ihm gesehen. —
Das Anneli hatte schon besser geschlafen, als diese
Nacht. Noch am folgenden Morgen war ihr Köpfchen
voll des eben Erlebten. Sie hatte auch gar zu viel
auf einmal erfahren. Für's Erste ist es sehr natürlich,
— 49 —
dass ein schönes Kind, das just im Begriff, seinen
eigenen Platz in der Menschheit einzunehmen, Gefallen
findet an einem schmucken jungen Manne, besonders
wenn sie blond und er energisch schwarz ist. Spielt
dieser gar den Artigen, den Zuvorkommenden, Alles,
versteht sich, mit gehörigem Anstand, dann streicht sie
sicherlich den Tag, da dies geschah, im Kalender roth
an. AUein vom IJeirathen, obschoh es am Ende doch
immer auf diesen Punkt hinausläuft, darf man ihr bei
Leibe nicht reden, sonst ist Alles verspielt. Die Sache'
soll schön nach und nach kommen, nicht schutzig,
nicht italienisch; diese weise Verhaltungsregel hatte der
Fremde ausser Acht gelassen, als er mit der Thüre
in's Haus fiel. Letzteres mag allenfalls ennet den
Bergen der Brauch sein, hier geht es nicht an; man
macht die Meidscheni nur wild, wenn man seine Hul-
digung nicht mit gehörigen Kratzfüssen oder gar mit
Kasteiungen einleitet. Dem Anneli lag aber immer
noch Eines quer: es war nicht im Reinen mit sich, ob
es dem ungestümen Liebhaber gegenüber recht gehan-
delt. Eine innere Stimme antwortete ihr Ja auf diese
Frage; dann musste sich Anneli aber auch wieder ge-
stehen: es war doch ein gar artiger Herr, und eigent-
lich Böses hat er ja nicht gewollt, im Gegentheil. Sie
fühlte ein lebhaftes Bedürfniss, sich mitzutheilen, und
da war leider keine lebende Seele auf der Alp, als ihr
Vater. Der zeigte sich entsetzlich spröde auf allen
Punkten, wo sie ihn anzubohren suchte, er wollte auch
gar nichts vom Italiener hören, und als sie seine Ge-
duld durch unaufhörliche offene und verdeckte Fragen
zum Platzen brachte, erwiderte er barsch:
„Meidschi! jetzt lass' mich in Ruh mit dem dummen
Zeug. Dass Du einmal heirathest, versteht sich von
selbst, 's war' schad', wenn nicht noch ein paar andere
Roth, Finsteraarbornfahrt. 4
— 50 —
Geschöpfe wie Du auf die Welt kämen. Was Du mich
aber da fragen willst, hättest Du der seligen Mutter
sagen sollen, wenn sie noch lebte. Gott sei's geklagt,
dass er sie zu früh weggenommen; im Uebrigen danke
dem Himmel, dass er Dir Verstand für Zwei gegeben,
und nun mache für jetzt und aUe Zeit diese Sache mit
Dir allein aus."
Es bedurfte zum gründlichen Abbruche dieser Ver-
handlung kaum des Laufbuben von Meiringen, der in
diesem Augenbhck in die stiUe Alpwohnung trat. Er war
scharf gelaufen und brachte die Meldung, es sei ein vor-
nehmer Herr von Bern angekommen, der wünsche eine
Bärenjagd zu machen und bestelle den Kaspar als Haupt-
jäger. Solche Aufträge braucht man Männern wie Kaspar
nicht zweimal auszurichten; selbst mitten im wichtig-
sten Geschäfte lassen sie sich dadurch aufrühren, wie
wenn sie eine Natter gestochen und zu jeder weitern
Arbeit untauglich gemacht hätte; dem Vater Anneli's
aber kam die Botschaft dreifach erwünscht, weil sie
das sicherste Mittel war, den vertrackten Fragen des
Mädchens zu entrinnen. Unterdessen, dachte er, wird
sie das Zeug schon verschlafen. Er befahl daher ohne
Besinnen:
„Hol' mir die Sonntagsrustig und ein sauberes
Hemd, Anneli; den Buben will ich unterdess selbst
besorgen. Denke Dir, Anneli, ein Herr von Bern!
Vielleicht ist es gar ein Landvogt oder hoher Rath,
einer meiner gnädigen Herren und Obern, da muss
man hurtig bei der Hand sein. Denn nur vornehme
Herren oder Lumpen gehen auf die Jagd, und die
Stadtlumpen kommen nicht bis zu uns herauf. Schnell,
schnell die Sonntagsrustig!"
Wehr und Waffen fanden sich natürlich immer zur
Stelle, da bedurfte es keiner Vorbereitungen. Als Alles
— 51 —
fertig war, hing sich Kaspar die Büchse um, bot seinem
Kinde einen freundlichen Abschiedsgruss und sagte:
„Gaum' gut, Anneli, und b'halt' Dich lustig."
Womit 's schön Anneli in Vaters Abwesenheit sich
den Kopf zerbrochen haben mag, darüber wollen wir
uns den eigenen nicht abmartern. Ohnehin war sie
längst daran gewöhnt. Tage lang allein auf der Alp zu
leben, und in solcher Einsamkeit ist es ja gerade gut,
wenn man etwas Neues hat, mit dem man sich die
Zeit vertreiben kann. Genug, die Jagd dauerte zwei
volle Tage und endete in der Gegend von Kaspar's Alp,
wie am Abend des zweiten Tages ein wohlbekanntes
Jauchzen der stillen Gaumerin von weitem verkündete.
Sie fand kaum Zeit, für die unerwarteten Gäste das
Nöthige zu Speis' und Trank herzurichten, obschon es
gewöhnlich auf einer Alphütte bald genug zusammen-
gelesen ist. Während sie den Milchkessel über den
Herd hing und das Feuer anschürte, um etwas War-
mes zu wege zu bringen, blickte sie dann und wann
zum geöffneten Fensterchen hinaus und spähte nach
der neuen Herrschaft. Anneli's Gesicht war nie schwach
gewesen, allein seit dem Herbstmarkte hatte es sich
zur Schärfe des Falken gesteigert mit Bezug auf fremde
junge Herren, die ihr neuerdings in's Gehege kommen
wüi'den. Ihre Ahnung, dass es wieder ein Junger sein
\vürde, das heisst gerade so recht im Alter, bestätigte
sich vollkommen. Aber weh! wie sah der aus im Ver-
gleich zum schönen Italiener 1 Während dieser bei allen
seinen Bewegungen wie aus Gemsengliedem zusammen-
gesetzt schien, trug der neu Herankommende seinen
Nacken fast so steif wie ein Ahornstecken. Doch An-
neli fand keine Zeit, lange Betrachtungen undVerglei-
chungen anzustellen; einmal musste auf die Arbeit ge-
sehen werden, und dann kam das Jodeln und Jauchzen
— 52 —
der Jagdgesellschaft so rasch in die Nähe, dass es
höchste Zeit ward, die gute Manier zu beobachten, in-
dem die Hauswirthin ein paar Minuten vor Ankunft
der Gäste sich unter die Hausthüre stellte.
Der Zug, der nun erschien, sah stattlich genug
aus. Vier Mann trugen auf einer Bahre einen gewalts-
mächtigen Bären, und dabei guckte einem der vorderen
Träger der Schweif eines ürhahns, den man im Vor-
beigang geschossen, aus der Seitentasche heraus. Die
Träger alle machten triumphirende Miene, obschon
ihnen der Mani schwer auf den Schultern lag, und Einer
nach dem Andern stiess einen gellenden Jauchzer aus
zum Preis ihrer That und zum Grusse der schönen
Aelplerin. Denn es ist unglaublich, wie so ein Donners-
kind selbst die rauhesten Bärenherzen in Brei zer-
kneten kann, einzig und allein durch ihr liebliches
Aussehen. Voran schritten in eifrigem Gespräche der
Herr von Bern und Kaspar, der die Gewehre von Bei-
den um die Schulter gehängt hatte. Während die
Träger, vor dem Alphause angekommen, sich ihrer
Last entledigten, führte Anneli den vornehmen Gast
sammt dem Vater in die Stube; die Uebrigen folgten
von selbst nach, und Alle waren erfreut, den Tisch
schon mit gehörigem Warmen in reichlicher Weise be-
laden zu sehen.
„Das muss man Dir lassen, Kaspar," sagte einer
der Treibmannen, als Anneli nach der ersten Aufwar-
tung wieder hinausgegangen war, „ein Mädel hast, das
ist ein Kapital, wo man die Haut anrührt."
„„Hoho!"" fiel ein Zweiter ein; „„ich rathe Dir,
sie nirgendwo anders anzurühren, als an einem der
zehn Finger, sonst geht es Dir wie neulich dem Italiener.
Es war ein Mordspass, und seither gefällt mir an dem
Meidschi nichts so gut, wie seine rechte Hand." "
— 53 —
'Habt Ihr auch von der Geschichte gehört?'
frug der dem Herrn zunächst. Sitzende seinen vor-
nehmen Nebenmann.
„0 ja" — erwiderte dieser — ^und es war
forsch von dem Kinde, man würde es ihr kaum an-
sehen. Allein so was Apartes ist es denn doch nicht;
unsere Mittelländerinnen können es gerade so, sie sind
nur ein wenig langsamer, aber, wenn es gilt, dann viel-
leicht noch wahrhafter. Wo sollten übrigens unsere
tapfern Buben herkommen, mit denen wir Herzöge und
Könige und Kaiser schlagen, wenn die Mütter dieser
Buben nicht auch handfeste Geschöpfe wären?"
'Ganz recht,' fiel der Vorige ein, 'aber Euch
Herren von Bern muss man es nachreden, dass Ihr
uns und unsere Knaben auch zu führen versteht. Was
Euch gewöhnlich an Speck und Muskeln abgeht, habt
Ihr dafür an Verstand und Wissenschaft voraus, und
das sieht ein Jeder ein, dass es alleweil gut nur gehen
kann, wann Alles das beisammen ist, und wenn Beide,
Herr und Baiser, das Herz am rechten Flecke haben.'
Es ist eine alte Schwachheit der Oberländer, dass
sie gelegentlich gern ein wenig schmeicheln. Wie nun
dieser Ton angeschlagen war, konnte es nicht fehlen,
dass der Erste anhub:
„Ja, Anneli," denn diese hatte sich neuerdings
eingefunden, „auch dieser Herr hier versteht seine
Sache trotz dem gewandtesten und unerschrockensten
Gemsenjäger; dein Vater wird es bestätigen. Klettern
kann er wie ein Gratthier, und couragirt ist er, ich
glaube, er würde den leibhaftigen Teufel nicht furchten.
Er ist's, er ganz allein, der das Unthier, welches wir
mitgebracht haben, erlegte. Als wir dem Mutzen auf
der Spur waren und ihn nach und nach in die Enge
getrieben haben mussten, postirten wir den Herrn an
— 54 —
die Stelle, die wir für die wenigst gefahrliche hielten.
Richtig lief der Bär, wie wir seiner endlich ansichtig
wurden, gerade in der Richtung, in der wir ihn haben
wollten, und da stand Dein Vater zur letzten Oelung
bereit, als plötzlich ein centnerschwerer Stein vom
Felsen herabrollt, dem Bären vor den Weg. Der guckt
verwundert, wie er oben den Rumpel hört, mit seinen
pfiffigen Aeugleiii hinauf, blitzschnell dreht er sich auf
den Hinterbeinen um und läuft, was gist was hest, in
gestrecktem Galopp der entgegengesetzten Richtung zu,
just auf den Herrn los. Mir ward's grieselig zu Muthe,
denn in dem Augenblicke hätte ich um das Leben des
lieben Herrn keinen Halbbatzen mehr gegeben. Der
aber bleibt stehen wie ein Bock, lässt das Thier, das
eine kleine Anhöhe zu ihm hinauf galoppirte, auf zwan-
zig Schritte herankommen, legt an, drückt ab — paflf!
Aber o weh! ich sah von weitem schon an den von
der Schulter auffliegenden Pelzhaaren, dass die Bestie
nur gestreift war. Freilich rollte sie rücklings den
kleinen Hang hinab, aber unten angekommen, stand sie
schon wieder auf den Hinterläufen, reckte sich grim-
mig aus und rannte mit entsetzlichem Gebrüll nun erst
recht auf ihren Feind los. Wir Alle eilten natürlich
dem Herrn zu Hülfe, allein wir befanden uns in der
Erste zu weit weg, um das Thier sicher treffen zu
können, und dann war der Bär viel flinker als wir. Er
stand schon wieder bei dem Herrn, als dieser seinen
zweiten Schuss noch nicht fertig geladen hatte. Jetzt,
dacht' ich, hilft nichts mehr, als Glück oder Helden-
muth. Mit schauderhafter Kaltblütigkeit geht der Herr
bis hart an den Rand des Abhanges dem Thier ent-
gegen, dreht sein Gewehr um, schlägt es ihm zweimal
rechts und links um den Schädel, dass es bis zu un-
seren Ohren herüber krachte; der Mutz schüttelt aber
— 55 —
nur den Kopf, als hätte ihn eine Bremse incommodirt,
und stellt sich brüllend zum letzten Sprung hoch auf
die Hinterbeine; da gewahrt der Herr den günstigen
Moment, stösst dem Thier mit aller Gewalt den Kolben
in die Brust, der Mutz überpurzelt und rollt zum
zweiten Mal das Berglein hinunter. Gott Lob und
Dank! — Piff! paff! schiessen ich und der Christen.
Aber, weiss der Teufel! wir fehlen Beide. Wir waren
durch das Laufen, zu sehr in Jast gerathen. Der Herr
indessen hatte während der neuen Kapriolen des Mani
Zeit gefunden, fertig zu laden. Wie der Bär zum
dritten Mal und wo möglich mit dreifacher Wuth her-
auf stürzt, hält ihm der Herr das Gewehr beinahe hart
an die Brust und jagt ihm eine Kugel in die Ljinge,
dass ihm das Athmen für immer vergeht. Er rollte
zum letzten Mal den Abhang hinunter, um nicht wieder
aufzustehen. Wir Andern kamen eben jetzt an und
hätten zwei Todte heimzutragen bekommen, wenn sich
der Herr nicht so tapfer selbst geholfen hätte. Re-
spect vor ihm! Stosst an, ihr Mannen, und du, Anneli,
thu' ihm Bescheid aus meinem Glase."
Anneli wusste, was der Brauch war, und that wie
befohlen. Auch hatte die eben vernommene Erzählung
ihr eine grosse Achtung vor der Tapferkeit des vor-
nehmen Herrn eingeflösst, besonders nachdem Kaspar
die Wahrheit des Erzählten mit einem kurzen bestimm-
ten Wort bekräftigt. Allein auch der vornehme Herr
Hess mit immer merklicherem Wohlgefallen seine
Blicke auf dem Gesichte und der Gestalt des schönen
Mädchens weiden. Er hatte zu gewahren geglaubt, sie
habe während der Erzählung recht um sein Leben ge-
bangt und hoch aufgeathmet, als schliesslich statt
seiner die Bestie todt war. Ja vielleicht bildete er sich
gar ein, das Meidschi sei daran, Knall und Fall in ihn
— 56 —
verliebt zu werden. Wenigstens sollen die Herren in
Bern überhaupt schnell mit dieser Einbildung bei der
Hand sein und dann, wenn es just keine Festungen zu
erstürmen gibt, mit nicht minderem Ungestüm auf
Mädchenherzen losgehen. Verbürgen kann ich's nicht,
aber es heisst so ; auf der anderen Seite hört man aber
auch sagen, dass sie in der Stadt unten manchmal
eine böse Zunge haben, besonders wenn sie zu lange
beim Kaffee sitzen.
Sei dem, wie ihm wolle; der Herr nahm die Hul-
digung des Mädchens sehr gnädig auf, sein steifer
Nacken schien sich sogar etwas zu beugen, er
rückte auf die Seite und verdeutete dem Anneli, sich
neben ihn zu setzen. Diese gehorchte jedoch erst,
nachdem ihr ein fragender Bhck nach dem Vater die
Gewissheit verschafft hatte, dass es erlaubt sei. Schon
wurde sie bei weitem nicht mehr so glühig roth, wie
neulich dem Italiener gegenüber — so leicht gewöhnen
sich die Meidscheni an das Schönthun — , aber ein
klein wenig wurde sie's doch. Der Herr befahl jetzt
einem der Leute, aus dem Proviantsack die paar rothen
Burgunderflaschen zu holen, die er für nach der Jagd
aufgespart, und es begann ein heiteres Bamboschiren
mit Geschwätz und Gesang, wobei Anneli's Jodler in
die Bässe der Andern hineinklangen wie ein Silber-
glöcklein in die Treicheln der Meisterkühe. Nachher
gingen die Treibmannen lünaus, um unter Kaspar's
Leitung den Bären auszuweiden, und der Herr blieb
mit dem Anneli allein in der Stube.
Man war sich bei dem ungewohnten Französischen
so vertraut geworden, dass es Anneli kaum bemerkte;
und da sie von Hause aus ein heiteres Gemüth war,
so setzte das ungewohnte Getränk ihr Zünglein der-
massen in Bewegung, dass sie beinah' wie aus der Art
— 57 —
schlug. Sie lachte und stichelte, nicht bös' gemeint
natürlich, nach allen Seiten. Dass der Herr für so
viele Reize nicht kalt bleiben konnte, versteht sich von
selbst, und da ein vornehmer Herr, namentlich, wie
gesagt, ein solcher von Bern, auch gar zu gerne bereit
ist, die Freundschaft eines niedriger geborenen Mäd-
chens als halbe oder ganze Verschossenheit auszulegen,
so begann er fast zu herzhaft zu werden:
„Nicht wahr, die Herren von Bern sind keine so
üblen Leute?"
„„Von diesen habe ich noch keinen gesehen, als
Euch, Herr. Wenn sie Alle so sind, so müssen's steife
und tapfere Herren sein." "
„Und wenn nun eines Tages so Einer käme und
wollte Dich nach Bern hinunter oder gar auf irgend
ein Schloss im Aargau als Gnaden Frau Landvögtin
führen, würdest Du dann Ja oder Nein sagen?"
„„Nein, würd' ich sagen.""
„Warum nicht gar!"
„„Nein, würd' ich sagen, sag' ich noch einmal;
und ich will Euch sagen, warum. Die Herren Land-
vögte gelten bei uns Bauersleuten dafür, dass sie dem
Volke das Blut aus den Nägeln hervorpressen, und
eines Solchen Frau mScht' ich nie sein, auch wenn er
so reich wäre wie der silbrige Stock." "
„Nun, so lass' es keinen Landvogt sein, sondern
sonst einen vornehmen Herrn, angesehen von Allen
seines Gleichen, vom Lehenmann und Handwerker bis
zum Boden hinab ehrfürchtig gegrüsst, der seine ganze
Zeit Dir widmen kann und nur zur Erholung dann und
wann die Lauben auf und ab spaziert, um frische Luft
zu schöpfen — "
„„Und dazu zu singen: Zur Arbeit nicht, zum
Müssiggang sind wir, o Herr, geschaffen? Pfui Teufel!
- 58 -
einen Derartigen möcht' ich erst recht nicht. Ich stelle
mir vor, ein Mann, der nichts thut, muss ein entsetz-
licher Mensch sein, und ehe mir ein solcher Langweiler
den ganzen Tag auf dem Nacken sitzt, will ich lieber
zehnmal eine alte Jungfer werden."**
„Aber ich bitte Dich, Kind, so arg ist es denn
doch nicht. Wenn man kein Amt hat und kein Ge-
schäft, so gibt es immer noch genug Gelegenheiten, um
den Geist zu beschäftigen und die Zeit auszufällen.
Die Hauptsache für Euch Frauen bleibt aber der Um-
stand, dass es zum guten Ton gehört, sich stets freund-
lich und aufmerksam gegen die Damen zu benehmen.
Ja dies bildet in der feinen Gesellschalt sogar ein
erstes Erforderniss zur guten Erziehung, und geht jeder
Kunst und Wissenschaft voran."
„ „ Und sind denn die Herren bei Euch immer so
artig und aufmerksam?""
„Zweifelst Du daran?"
„„Ich muss wohl, denn ich habe schon vielmal
sagen hören, die Herren von Bern seien überall char-
mant, nur daheim nicht.""
Der Herr mochte anknüpfen, wo er wollte, das
Wettersmeidschi trumpfte ihn immer wieder ab. Dies
musste ihm natürlich zuletzt dm Geduldfaden reissen.
Seine Stime runzelte sich unwirsch zusammen, der bis-
her freundlich gewesene Blick hatte sich nach und
nach verfinstert, ja bei den letzten Worten ward er so
schwarz, grimm und stechig, dass Anneli glaubte, auf
einmal wieder — den Italiener vor sich zu sehen.
Halb aufgerichtet und das zitternde Mädchen mit
durchbohrenden Augen musternd, frug er:
„Mädchen, hat Dir Dein Vater das eingetrichtert?"
„„Um Gottes Willen, was habt Ihr, Herr? Mein
Vater weiss nichts davon.""
- 59 —
Mit diesen Worten wollte sie sich eilends aus der
unheimKchen Luft flüchten; der Gast aber, der im
gleichen Augenblick gefühlt haben mochte, dass er aus
der Rolle gefallen sei, hielt sie am Arm zurück, hatte
sofort wieder die allerfreundlichste Miene angezogen
und beschwichtigte:
„Furcht' Dich nicht, Kind, ich bin nicht bös. Nur
darauf gib mir noch Bescheid: wie wird denn eigent-
lich der Mann aussehen, der einst Deine Gunst er-
wirbt?"
„ „ Vor allen Dingen lasst mich los, Herr, oder ich
rufe dem Vater und seinen Mannen.'*"
Er liess Anneli's Arm fahren.
„„Wie mein Schatz einmal aussieht, das weiss der
Herrgott, ich nicht, und Euch geht es nichts an. Das
aber kann ich Euch zum voraus sagen, dass mich der
armseligste Gaisbub eher bekommt, als der fürnehmste
Herr aus Italien oder Bern. Nach meinem einfältigen
Verstand will die rechte Liebe errungen sein, nicht
geschenkt; und das Ringen verstehen unsere Buben
besser, als ihr Herren, denen das Glück in die Wiege
gefallen." "
Auf dieses eilte das Mädchen in die Flur hinaus,
schlug die Thüre schmetternd hinter sich zu und lief
schnurstracks zum entferntesten Gaden der Alp hinauf,
um nicht eher wieder heimzukommen, als bis sie aus
der Fe.me bemerkt hatte, dass der fremde Herr mit
seinem Trosse zu Thal gezogen. —
Zwei solche Stürme in so kurzer Zeit auszubauen,
ist zu viel für ein junges Mädchenherz; eine Wunde
muss immer zurückbleiben. Ich meine fast, es geht
da wie mit dem Erdreich, in welchem köstlicher Samen
liegt, eine trockene Glühsonne hält aber die Oberfläche
starr und versperrt dem Samen den Durchbruch. So
— 60 —
hält ein kindlicher Sinn das junge Herz in der liebens-
würdigen Gefangenschaft der Unschuld, dann gräbt auf
einmal das Leben grausame Spatenstiche in das Erd-
reich, auf welchem sonnige Jugendlust bisher ihr Spiel
trieb, der Gedanke der Aussenwelt, die Welt selbst
dringt ein in den lieiligen Schacht und findet als köst-
lichsten Samen die Liebe. Die Liebe athmet auf,
strebt durch die Wunde zum Licht, entfaltet ihr reiches
Gezweig, und Rose an Rose spriesst duftig hervor. So.
war seit jenem zweiten Versuchungstage Anneli's Un-
befangenheit dahin; und da sie mit dem Vater nicht
reden konnte, war sie am liebsten ganz allein. Sie
feierte ein. stilles Fest, wenn er fortging auf die Jagd.
Dann durfte auch sie frei ihrer Neigung folgen, und
diese zog sie hinauf auf die Fluh, von wo man an die
höchsten Firne und weit in's ebene Land hinaus blickt.
Hier war Linderung für die gepresste Brust, eine Welt
für das liebebedürftige Herz.
Eines Tages hatte sie sich ungewöhnlich weit an
der Fluh verstiegen, an welcher die Schafe grasten.
Wieder war sie in ihr süssschmerzliches Träumen ver-
sunken und staunte der sinkenden Sonne nach, die
eben mit goldigem Glänze hinter den Bergen ver-
schwinden wollte. Da vernahm sie auf einmal zu
Häupten ein jammervolles Blöcken. Ihr Lieblings-
lämmchen hatte sich verirrt, war eine Strecke weit die
Karrplatten hinabgerutscht und wusste sich nicht mehr
zu helfen. Mit wahrer Angst lief Anneli hin und her,
um zu sehen, wie sie den Liebling rette, allein auch
sie fand für das arme Thierchen keinen Ausweg: es
war Alles glatter Felsen, wohl einen Kirchthurm hoch,
auf welchem man allenfalls mit Lebensgefahr hinab-
rutschen, nimmer jedoch hinauf klettern konnte. Nun
stiess auch Anneli ihre helle Wehklage aus, doch ver-
— 61 —
mochte sie nicht länger zuzuschauen, es schnürte ihr
das Herz zusammen, sie eilte von dannen, um nicht
länger Zeuge des traurigen Schauspiels zu sein, in
welchem sie so ohnmächtig dastand. Zwei, drei Mal
noch vernahm sie im Forteilen den Jammerruf des
armen Lieblings, gleich als wollte es klagen: Hilf mir,
Anneli, ich bin verloren! Dies mochte das Mädchen
vollends nicht ertragen, nur einen letzten Blick noch,
dann Welches Wunder geschah! Wie hingezau-
bert stand beim verirrten Lamme ein junger Berg-
mann, halb Hirt, halb Jäger, von kräftigem Wuchs und
frischem Blick. Eben nahm der plötzlich erschienene
Retter das Thierchen in den linken Arm und drückte
es an die Brust, dass es sich nicht rühren konnte, dann
warf er sich auf den Felsen und liess seinen Körper
behutsam die steilen Platten hinabgleiten, mit der
rechten Hand die Schnelligkeit des Laufes dämpfend.
Gott, es hilft nichts. Schneller und schneller geht
der Lauf, der Mann bemeistert ihn nicht mehr, und
zehn Schritte über dem Boden schlägt es ihn mächtig
über. Dem Anneli ward es schwindlig bei dem An-
blicke, sie musste sich am nächsten Felsenblocke halten,
um nicht in die zitternden Kniee zu sinken, und dies
dauerte eine gute Weile. Sie erwachte aus ihrer halben
Ohnmacht erst, als sie ein Geleck an der herabhängen-
den andern Hand spürte : es war der Liebling, der gar
keinen Schaden genommen und nun, froh seines wie-
dergewonnenen Lebens, recht muthwillig umherhüpfte,
dass sein Glöckchen am wolligen Hals raste, als müsste
es Sturm läuten. L^nd es läutete wirklich Sturm.
Anneli war kaum wieder zu Kraft gekommen, so war
ihre nächste Sorge auf den verunglückten Mann ge-
richtet; sie stieg etwas an der Fluh zurück, um nach
dem Retter ihres Lieblings zu sehen. Er lebte, aber
— 62 —
lag in elendem Zustande da, vergebens bemüht, sich
aufzurichten und nach dem nahen Bergstocke zu
greifen, den er von oben vorausgeworfen; im Gesichte
jedoch zeigte er eine kräftige Ruhe.
„Thu' nicht so, Meidschi, " erwiderte er den
jammernden Gruss des Anneli, „es wird nicht so
schlimm sein. Ich glaube, die Achsel ist mir ausein-
ander, aber das Uebrige noch in Ordnung. Hilf mir
auf die Füsse."
Anneli half.
„So, reiche mir nun von dort den Stock in die
linke Hand. — Danke. Jetzt erlaub', dass ich Dir den
rechten Arm über den Nacken lege, dann wird's gehen.
— Uff! ja da liegt es, ich habe die Kraft nicht. Thu'
Du mir's."
Anneli duckte sich nun selbst unter den Arm des
Verwundeten und legte ihn sachte auf ihren Nacken,
so dass die Hand vorn über die rechte Schulter her-
abhing.
„Dank, Meidschi; jetzt sollte es gehen. Lasstuns
ein paar Schritte probiren."
Es ging, aber sachte und langsam, üebrigens war
es, als ob der Herrgott die Zwei grad' wie zusammen
geschaffen hätte; Anneli besass just die gehörige Grösse,
um dem Arm des Verunglückten die bequemste Lage
ZM gewähren, und wer den Beiden in's Gesicht hätte
blicken können, würde bei ihr eine engelsgleiche Hin-
gebung gefunden haben und bei ihm jene Selbstbe-
herrschung, jenes männliche Unterdrücken des Schmer-
zes, wie es nur urkräftigen Naturen gegeben ist.
Er war gleichwohl halb zu Tode ermattet, als
nach langem, schmerzhaftem Gange die Alphütte erreicht
vnirde, und er wusste kaum, wie ihm geschah, als ihn
Anneli auf ihr eigenes Bett legte, die Wunde aus-
— 63 —
wusch und verband, und Alles that, was in solchen
Fällen nur immer die hingehendste Pflege vermag.
Gegen Morgen verfiel er in ein heftiges Fieber, das
mehrere Tage und Nächte anhielt, allein auch hiergegen
wusste Anneli einige heilende Kräuter, so dass das
Schlimmste am Ende bald überstanden war. Der
Kranke war aber auch so geduldig, so folgsam allen
Anordnungen seiner liebenswürdigen Pflegerin.
„Jetzt musst mich noch ein paar Tage behalten,
Anneli," sagte Hans eines Morgens, da er sich wieder
hell im Geist fühlte und die Genesung im wunden
Körper spürte, „dann wird es wieder von selbst
gehen."
„„Nein, Hans, noch ein paar Wochen lass' ich
Dich nicht fort, sonst könntest Dir einen Schaden für's
Leben auflesen.""
„Liegt Dir denn so viel an meinem Leben, An-
neU?"
„„Siehst Du? Du musst noch länger bleiben. Du
hast noch Fieber, sonst würdest nicht so dumm
schwatzen." "
* „Ich will Dir nur Eines sagen, Anneli; wenn ich
noch viel länger bleibe, dann gehe ich kränker weg,
als ich hergekommen bin, aber diesmal anderswo un-
pass, als an der Schulter.^
„„Guck, wie Du wieder irre redest; man versteht
ja gar nicht, was Du sagen willst." "
Dass ihn Anneli aber doch recht gut verstanden,
das bezeugten die plötzlich roth gewordenen Wangen,
die sie freilich vor dem Kranken zu verbergeh bemüht
war. Eben trippelte zum Glück das gerettete Lämm-
chen, das Anneli seit jenem Abend bei sich behalten,
zur halb geöffneten Thüre herein, und diese nahm die
gute Gelegenheit wahr, es zu streicheln und zu herzen.
— 04 —
um dem Kranken den Rücken zukehren zu können.
Als sie sich nach einigen Sekunden wieder kühler
fühlte, drehte sie sich nach der Seite des Kranken
zurück und fuhr zum Lämmchen fort:
„„Guck', Dein Lebensretter wird wieder gesund.
Gelt, du hast auch deine Freude d'ran? Geh' und
mach' ihm ein Kompliment.""
Das Lämmchen hatte fast Verstand; es hob zwei,
drei Mal seine Vorderbeinchen in die Höh', nickte mit
schiefliegendem Köpfchen jedesmal dazu, dass das
Glöckchen am Hals wirbelte, und galoppirte dann am
Bette des Kranken vorbei schnurstracks wieder in's
Freie hinaus. Hans und Anneli lachten dazu wie die
Kinder.
Dem alten Kaspar war natürlich das curiose Wesen
der Beiden nicht entgangen. Wer sollte es auch nicht
merken, wenn Zwei in einander verliebt sind? Allein
in richtiger Würdigung der Verhältnisse, und seinen
Versprechungen und Aussagen getreu, Hess er der
Sache einfach ihren Lauf. Ohnehin konnte er sich auf
die gesunde Natur seines Kindes verlassen, das die von
ihm gehegte gute Meinung gegenüber den räthselhafteh
vornehmen Herren glänzend gerechtfertigt hatte. Auch
gefiel ihm der junge Bursche recht gut, und eigentlich
hätte er nichts lieber gewünscht, als dass das Anneli
so schnell wie möglich mit ihjn unter Dach käme, da-
mit endlich der vertrackte Berggeist ihn und sein
Mädel in Ruhe lasse. Mit Vergnügen nahm er des-
halb die Gelegenheit wahr, wo ihm, so zu sagen, die
väterliche Pflicht das Amt auferlegte, sein Wörtchen
d'rein zu reden. Je näher nämlich der Tag heran-
rückte, da aller und jeder Grund aufhörte, die Alp-
hütte für einen Spittel und ihre schöne Herrin für eine
Krankenpflegerin zu nehmen, desto blasser und wort-
— 65 —
karger, desto kränker im Innern wurde das Anneli.
Mehr als einnial schwebte ihr ein Geheinmiss auf den
Lippen, welches sie dem Vater anvertrauen wollte, aber
jedesmal unterdrückte die weibliche Scheu es wieder.
Eines Samstag Abends, als Hans einen Gang durch die
Alp machte und Kaspar mit seinem Kinde allein auf
der Bank vor der Hütte sass, hub der Alte, nachdem
er zuvor einige mächtige Rauchwolken ausgestossen,
folgendermassen an:
„Anneli, ich muss Dir was sagen."
Dies war ein ganz ungewohnter Redeanfang. So
rückte Kaspar nur aus, wenn er etwas Wichtiges sagen
wollte. Anneli schaute ihn daher mit grossen, erwar-
tungsvollen Augen an.
„Als Deine selige Mutter noch lebte, folgte ich
dem Grundsatze, der Mann müsse sein Geschäft haben
und die Frau das ihrige, und da dürfe man sich gegen-
seitig nicht in's Handwerk pfuschen, so werde der
häusliche Friede am besten erhalten. Du weisst, seit
die Mutter todt ist, bist Du schon früh angehalten
worden, ihr Wesen zu besorgen, und ich gebe Dir das
Zeugniss, dass Du's nie anders, als zu meiner Freude
thatest."
Hier räusperte sich der Alte und Anneli fand Zeit,
Zeichen lebhafter Ungeduld abzulegen durch Hin- und
Herrutschen, durch Augen -Auf- und Niederschlagen,
durch Zupfen am Fürtuch und so weiter. Natürlich
roch sie den Braten, und wenn sie ihrer Stimmung
hätte einen passenden kurzen Ausdruck geben können,
so wäre sie dem Redner gewiss in's Wort gefallen:
Zur Sache, zur Sache! E^aspar merkte nichts davon,
er war allzusehr in seinen wohldurchdachten Vortrag
vertieft und fuhr, nachdem er wiederholt lange Züge
aus seiner Pfeife gethan, fort:
Roth, Finsteraarhornfahrt. 5
— 66 —
„Jetzt ist ein Fall eingetreten, wo Du Mutter und
Tochter zu gleicher Zeit sein solltest, und das geht
unter natürlichen Menschen nicht gut an. Ich meine,
das Beste ist, ich wildere einmal gegen meine sonstigen
Grundsätze in das Weibergeschäft hinein; wie ich die
Sache ansehe, kommen wir damit Alle am hurtigsten
auf einen grünen Zweig."
Zur Sache, zur Sache! tönte es, wenn auch mit an-
dern oder gar keinen Worten, im Innern des Mädchens,
und ihre Ungeduld gab sich durch neues Rutschen und
Zupfen kund. Diesmal störte es den würdigen ßedner,
so dass ihm plötzlicl^ der Faden des Zusammenhanges
abhanden kam; da es aber keine grössere Schmach
gibt, als wenn ein Pfarrer in der Predigt stecken
bleibt, so eilte Kaspar rasch entschlossen zum Schluss:
„Anneli! so löhlig, wie Du die letzte Zeit über
thust, will ich Dich nicht länger sehen. Wenn Du etwa
den Hans magst, so nimm ihn. Ich mag den braven
Jungen auch leiden.''
. Das war die Sache und brach das Eis. Jauch-
zend sprang das Anneli auf, drehte sich zweimal auf
dem rechten Absatz um, sprang dann auf den Vater
los und umarmte und herzte und küsste ihn, als ob
eigentlich er, nicht der Hans, ihr Schatz geworden
wäre. Der Hans aber stand plötzlich zur andern Seite
des Vaters und klopfte ihm, diesem fast zum Schrecken,
einen währschaften Schlag auf die Schulter:
^Danke, Vater; Ihr sollt es nicht zu bereuen haben,
imd das Anneli noch weniger.^
Dann reichte er dem Alten die Hand, und die
beiden Männer schüttelten sich mit einer Gewalt, dass
es einem Städter gewisslich die Armbänder auseinan-
dergerissen haben würde. Nun hub aber Hans wieder
an und sagte:
— 67 —
'Ich glaube, Anneli, ich könnte Dich nicht recht
lieben, bevor Eines geschehen, das mir besonders am
Herzen liegt. Dort drüben über den Bergen, wo ich
hergekommen bin, lebt mir die alte Mutter; dieser
möchte ich meine Geliebte zufuhren. Und Ihr, Vater,
kommt mit. Schaut, es weht ein lustiger Föhn von
den Gletschern her, morgen wird's wohl der letzte
schöne Sonntag in diesem Jahre sein, den könnten wir
gerade benutzen."
„„Ich komme. Gottlob, nun habe ich wieder eine
Mutter!"" rief Anneli freudig aus.
Auch Kaspar willigte aUgemach ein, aber ungern
und nicht ohne ein bedenkliches Eopfschütteln; denn
dort drüben, wohin der Hans gezeigt hatte, lag der
Viescher Gletscher,
Hans hatte sich anerboten, den Abend noch aus
einer benachbarten Alp . einen Knecht herbeizuholen,
damit er in Abwesenheit der kleinen Familie ihr Vieh
besorge, und er kehrte erst heim, als Vater und Anneli
in tiefem Schlaf lagen. Lange vor der Sonne waren
Alle wieder auf und wanderten lautlos den Höhen zu.
Dem Anneli, welche sich sehr freute, zum ersten Mal
. in die Herrlichkeiten der Gletscherwelt hinauf zu ge-
langen, von denen ihr der Vater so oft erzählt, ging
das Marschiren aufifallend mühelos von Statten, sie
brauchte kaum zu athmen; und auch der Vater ver-
wunderte sich höchlich, wie leicht und schnell ihn die
Füsse trugen, so was war ihm noch nie vorgekommen.
Ja, sie fanden sich mit geradezu fabelhafter Schnellig-
keit auf der Höhe des Sattels, von dem man in's
Wallis hinunter steigt und das grosse Eismeer vor sich
hat. In eben dem Augenblicke trat vom klaren Osten
her der erste Sonnenstrahl hervor und vergoldete die
Bergspitzen ringsum, dass es eine Pracht war. Anneli
5*
— 68 —
hätte vergehen mögen vor Entzücken, und selbst dem
gegen die Natureindrücke abgehärteten Kaspar sah die
Welt heute b'sonderbar schön aus.
Unterdessen ging aber noch eine andere, für unsere
Leutchen viel wunderbarere Veränderung vor, die sie
im Anstaunen des Sonnenaufganges anfänglich gar
nicht bemerkten. Hans stand plötzlich verwandelt da:
der ganze Leib war angethan mit einer Rüstung von
Gletschereis, das jeden Augenblick vom Azur zum
. Meergrün und vom Grün zum Himmelblau hinüber-
spielte; um die Schultern hing ein Talar von blenden-
dem Firnschnee, aus dem unzählige diamantene Licht-
funken strahlten; auf dem Haupte trug er eine graue
Felsenkrone, und den Granit überragte junger flockiger
Schnee, auf welchem das Morgenroth glühte.
„0 Himmel, der Berggeist!" brach Kaspar mit
einem Schrei des Entsetzens aus, und stand dann wie
versteinert da. Anneli war wahrlich nicht weniger er-
schrocken, allein atis alle dem Glanz heraus erkannte
sie noch das unveränderte und wohlwollend lächelnde
AntUtz des Geliebten. Es beschUch sie fast noch vor
dem Schrecken ein unnennbar seliges Gefühl, als ob
sie erst jetzt recht glückUch wäre:
„„Schau, Vater, es ist ja mein Schatz.""
'Ja, Kind,' hub jetzt der Berggeist an, 'ich bin
dein Schatz und ich werde es bleiben alle Zeit. Ich
habe versprochen. Dich zu meiner Mutter zu fuhren.
Sieh', hier diese strahlende Welt ist meine Mutter, aus
ihrem Schoosse bin ich entsprossen und in ihren
Schooss werde ich zurückkehren, aber erst, wann der
Urheber alles Seins die Zeit aufhebt und die Ewigkeit,
und Himmel und Erde in Nichts zerfallen. Doch so
lange sollst auch Du sein, kraft meiner Majestät, zum
Lohne Deiner Tugend und zum Preise der Schönheit. —
. — 69 —
Ja, Vater, ich bin der Berggeist, aber fürchte ihn
nicht. Er hat Dir schon einmal das Leben gerettet,
und so lange es Dir der Gott der Menschen erhält,
sollst Du an mir einen mächtigen Beschützer finden.
— Nun kommt und lasst uns Hochzeit feiern im
Gletscher.'
Indem der Berggeist dieses sagte, hob er gebietend
den Arm empor, auf seinen Wink flogen vier Gold-
adler von einem der höchsten Gipfel herab, und aus
dem Schnabel eines Jeden hing das Ende eines rosen-
rothen Wolkenteppichs. Ehe es die Verzauberten nur
bemerkten, fühlten sie sich sammt dem Berggeiste auf
dem Teppich in die Luft getragen, hoch über den
Gletscher hin, und wie sie über der Mitte des Eismee-
res schwebten, gab der Berggeist einen neuen Wink.
Ein dröhnender KnaU wie aus hundert Kanonen er-
scholl unter ihnen. Der Gletscher war auseinander-
gesprengt, die Adler flogen schnurstracks zur Tiefe mit
ihrer Last, mitten in den klaffenden Eisschrund hinein,
und als sie drinnen angekommen waren, erdröhnte ein
neuer Krach, weg waren die Adler, und die Eiswände
wölbten sich in einem ungeheuren himmelblauen Dom
über den Verzauberten zusammen. Ein unbeschreib-
licher Glanz flammte durch den gewaltigen Gletscher-
saal, es wimmelte von Lichtfunken, deren jeder an
den schimmernden Wänden sich hundertfältig spiegelte,
grüne Cascaden sprudelten in den mannigfaltigsten
Gestalten über den glatten Azur und spritzten unzäh-
lige weisse Schaumwolken aus. In der Mitte des Saales
stand ein Gletschertisch, mit köstlichen Speisen bela-
den; der Berggeist führte seine Braut und den Vater
zu ihm hin. Kaum hatten sie sich gesetzt, so waren
die nächsten Cascaden in eben so viele Brunnen ver-
wandelt, die den süssesten Schaumwein in krystallene
— 70 —
Gläser gössen. Jetzt öffnete sich unter wunderbarer
Sphärenmusik ein grosses Eisthor am einen Ende des
Saales, und herein zog ein Chor von Geistern aller
Art, die dem mächtigen Hochzeiter unterthan. Die
Vordersten trugen auf sammtenen Polstern die Hoch-
zeitgaben und kamen, damit die verzauberte Braut zu
schmücken. Die erste Gabe war ein Gewand von
blendendem Firnschnee, aus dem unzählige diamantene
Lichtfunken strahlten, und der Geist, der es ihr um
die Hüfte legte, sprach dazu: „So rein, wie dieses Ge-
wand, war Dein Herz und wird es bleiben in Ewigkeit."
Der Zweite brachte ein Diadem von rothen Rubinen
und drückte es ihr auf das blonde Haar: „Die Farbe
der Scham ist das Zeichen der wahren Liebe, dieser
Adel wird Deine Stirne schmücken in Ewigkeit." Der
Dritte brachte Spangen von schwarzen Topasen und
hing sie der Braut um den weissen Arm : „Schwarz ist
die Farbe des Todes, den Menschen ein Gräuel; Du
aber trägst diesen Stein hinfür als Zeichen, dass Deine
Tugend den Tod überwunden und durch jedes Unge-
mach dringen wird wie der klare Strahl, der aus dem
dunkeln Kristall strömt." Jetzt erhob sich der Berg-
geist, fasste die ihm ebenbürtig geschmückte Braut
bei der Hand und drückte ihr einen Kuss auf die
Stirn, der Chor der Geister aber sank in die* Kniee
und verbeugte sich vor der Königin der Berge.
Wieder ein weithin dröhnender Knall, aushallend durch
die gesammte Gletscherwelt, und die Vermählung war
vollzogen.
Am Morgen des folgenden Tages war Kaspar wie-
der auf seiner Alp. Er wusste kaum, wie ihm ge-
schehen. Es war Alles in gleicher Ordnung wie zuvor,
nur 's schön Anneli fehlte, und das machte ihm
schrecklich lange Zeit. Dafür gab es kein besseres
— 71 —
Heilmittel, als die Jagd. Kaspar hob die Büchse von
der Wand und stieg in die Berge, den Gemsen nach.
Er brachte eine erstaunlich reiche Beute heim. Der
zweite Tag verstrich ebenso, der dritte auch, nicht
minder ein zweites und drittes Jahr und sein ganzes
übriges Leben. Dem alten Jäger versagte von diesem
Tag an keine einzige Kugel mehr, daneben sprossten
aus seiner Alp viel saftigere Kräuter, als je, und die
Thierchen, die von ihrem Grase genossen, wurden bis
weit in's Welschland hinein bewundert. So waltete der
Segen des Berggeistes auf dem grünen Alpeneiland bis
zum seligen Ende des Alten.
Am Abend aber des Hochzeittages hatte der Berg-
geist seine Braut auf ein weiches Lager von Flechten
und Moosen gelegt und die duftigsten und farbigsten
Blumen um ihr Haupt gestreut, bis sie entschlummerte.
Dann hob er sie in seine Arme und trug sie aufs
Neue zur Oberwelt empor. Wo die Felsen viele tau-
send Fuss steil abstürzen nach dem wüsten Boththal,
und tiefer noch bis zum freundlichen Plane von Lau-
terbrunnen, stellte der Berggeist die süsse Last hin.
Der Hauch, der da seinem tiefausholenden Athem ent-
strömte, drang in ihren Körper und belebte diesen mit
dem unvergänglichen Zauber der Firne. Noch war die
Maid bekleidet mit dem Gewände der Alpenkönigin,
mit blendendem Firnschnee, aus dem unzählige dia-
mantene Lichtfiinken strahlten. Die letzten Falten des
Gewandes berühren seitdem die grünen Matten der
Wengernalp. Die schwarzen Topase am weissen Arm
sind granitne Felsen geworden, die aus den Gletschern
lugen. Wo das Herz in ungetrübter Reinheit klopfte,
hat der Berggeist den Firnbusen hervorgewölbt, den
die Menschen das Schueehorn und das Silberhorn nen-
nen, und sie glänzen in gleicher unverwüstlicher Rein-
— 72 —
heit weit in die Lande hinaus. Die ganze strahlende
Berggestalt heisst seitdem, zum Lob der Tugend und
zum Preise der Schönheit, die Jungfrau; und wenn
Morgens aus den Alpen die Sonne aufsteigt und Abends
hinter dem Jura verschwindet, dann bietet der Berg-
geist seiner Geliebten den Morgen- und Abendkuss, und
es flammen die Bubinen auf ihrer Stirn.
Das Hörn.
Wenn man vom Rothhomsattel eine gerade Linie
nach Westen zieht, so fällt sie ziemlich genau auf die
Grünhomlücke, einen neuen, hohen und stark verglet-
' scherten Sattel. Er bildet gleichsam das Thor zum
Aletsch-Eismeer, dem gewaltigsten der Alpenwelt, dessen
eigentlicher Beherrscher, das Aletschhom, mit seinen
4207 Metern (12,950 Par. Fuss) der nächste Rivale des
Finsteraarhoms ist; an den nordwestlichen Wurzeln
des Eismeers thront die Jungfrau mit 4167 Metern
(12,827 Fuss). Zwischen Rothhomsattel und Grünhom-
lücke breitet sich der Viescher Gletscher in bedeuten-
dem Umfange aus. Im Norden ist er begrenzt durch
das Finsteraarhom und den hohen Berggrat, der vom
Könige der Bemer Alpen nach den Grindelwaldner
Viescher Hörnern hinüber führt. Diesem Grat entsteigt
in nächster Nachbarschaft des Finsteraarhoms das
Agassizhom mit 3950 Metern (12,158 Fuss), dann das
grosse Viescher Hom mit 3873 Metern (11,921 Fuss).
Bei den Grindelwaldner Viescher Hörnern angelangt,
biegt der Grat beinahe im rechten Winkel nach Süden
— 74 —
ab und stösst sofort die Viescher Homer selbst hervor,
deren nicht weniger als drei die Höhe von 4000 Metern
überschreiten. Diese südwärts laufende hohe Fimkette
endigt bei der Grünhornlücke, um sofort wieder sich in
einem ungeordneten Haufen imposanter und reich von
Gletschern durchwirkter Berggipfel zu erheben, nämlich in
den Walliser Viescher Hörnern oder (wie wir sie auch
künftig nennen wollen) den Walcher Hörnern, für deren
höchstes man fiüher das wenig über 3700 Meter reichende
Wannehorn hielt, während die Dufour'sche Karte den
„Kamm" und einen Ungenannten über 3800 und einen
zweiten Ungenannten sogar auf 3905 Meter (12,019 Fuss)
steigen lässt. Trotz der verworrenen Lage der Walcher
Hörner zu einander erkennt man doch in ihrem Grund-
stock eine bestimmte Richtung, oder vielmehr ihrer
zwei. Zunächst von der Grünhomlücke weg folgt diese
Kette dem von den Viescher Hörnern gegebenen Impuls
bis zum Wannehorn, und der Hauptzug geht auch von da
an, dem grossen Aletschgletscher entlang, nach Süden
weiter. Vom Wannehorn biegt jedoch ein Zweig nach
Osten ab und wendet sich bald sogar nach Nordosten
um, direct demRothhom zu, dem gegenüber am ßoth-
homsattel die mehrerwähnte, von Norden herabkom-
mende Kette des Finsteraarhoms in Gestalt des rothen
Eckens erstirbt. So scheint der Viescher Gletscher in
beinahe eirundem Kreise von den drei Ketten des Fin-
steraarhoms, der Viescher Hörner und der Walcher
Hörner eingeschlossen zusein; allein er scheint es. nur,
denn zwischen dem Rothhom und dem nordöstlichen
Ausläufer der Walcher Homer erzwingt er sich einen
Durchpass. Kaum ist er im Süden des Rothhoms an-
gelangt, so stösst zu ihm der von der östlichen Ab-
dachung des Finsteraarhoms, vom Studerhom und
Oberaarhom kommende namenlose Gletscher, den wir
75 -
am gestrigen Abend passirt haben; die beiden Eis-
ströme vermengen ihre Fluthen, schütteln sehr bald
allen bisher getragenen Schnee ab und treiben in wilder
Nacktheit , von Klüften und Schrunden wie kleingehackt,
als eine schmale grüne Schlange nach Süden weiter,
zwischen der Trift im Westen und dem Wasen- und
Setzenhom Östlich hindurch, um nach einer letzten
barschen Biegung dem Viescher Thal zuzueilen und da
in zwei. Armen, nicht unähnlich dem geöffneten Schlan-
genrachen, auszuzüngeln.
Dies ist der Schauplatz unserer Abenteuer vom
31. Juli, von welchen ich nun erzählen will.
Als meine Führer um ^1^ 4 Uhr das kalte Früh-
stück, bestehend in Schaf braten, Schinken, Wein und
Schneewasser, zurichteten, wies der erblassende Mond
einen Hof, und im Osten glühte ein Purpurroth, das
mir für diesen entscheidenden Tag kein sonderlich gutes
Augurium schien. Dann aber pflanzte es sich den vie-
len weissen Bergspitzen mit, nahen und fernen. Wie
wir sie vor wenigen Stunden vom Golde des Abends
weg erblassen sahen, so stiegen sie jetzt von der kalten,
todesähnlichen Nacht zu neuem Leben auf, durchglüht
vom jungen Tag, und das herrliche Schauspiel erman-
gelte nicht, auch unsere Herzen zu erwärmen und für
das schöne Beginnen zu stärken. Wolken zeigten sich
zwar auch im Westen, allein sie lösten sich bald im
Hauche des Tages auf; nur über den Gipfeln der süd-
lichen Walliser Berge blieben sie hartnäckig schweben,
und zwar in fast militärisch genauer Front parallel mit
dieser grandiosen Kette.
Kaum hatte, um 4 Uhr, jenes weitverzweigte Alpen-
glühen dem fertigen Tage Platz gemacht, so begaben
wir uns auf den Marsch. Zum Viescher Gletscher hinab
führt vom ßothhornsattel eine gefrorene Schneehalde,
— 76 —
WO sich's stellenweise vortreflQich auf den Beinen rutschen
liess; und wo ein geübter Gletscherfahrer dieses kind-
liche Vergnügen findet, da lässt er es nie unbenutzt.
Wir waren also schnell unten. Da wollte aber der
Deixel, dass einer der Führer die Bemerkung machte,
etwas Wichtiges auf dem rothen Ecken liegen gelassen
zu haben, dass er. folglich die Halde wieder zurück-
steigen musste, was den Marsch um eine gute halbe
Stunde aufhielt. Die Pause wurde jedoch einsichtig
verwerthet. Von diesem Punkte an war das vor uns
liegende Marschrevier allen meinen Führern so gut wie
mir selbst eine unbekannte Gegend. Kaspar hatte sich .
zwar vom alten Jaun — Gott hab' ihn selig! — und
von den Schriften des ehrlichen Gottlieb Studer tüchtig
instruiren lassen, so dass er mit gutem Gewissen die
Pflicht übernehmen durfte, mich auf das Hom zu füh-
ren; allein solche Instructionen können immer nur so
weit reichen, dem Schüler die allgemeine Richtung an-
zuweisen, für das Detail müssen sein Verstand und
seine Geistesgegenwart selber sorgen. Nun bot gerade
das erste Betreten des Viescher Gletschers eine Ver-
führung dar. Nahm man die Richtung links, nach der
östlichen Abdachung der Viescher Hörner, so gelangte
man in ein prächtiges und allem Anscheine nach leicht
passirbares Gletscherthal hinein, um nach einigen
Stunden zu gewahren, dass man irre gegangen. Kaspar
wusste wohl, dass man sich möglichst nahe an die
Felsenkante zu halten hatte, welche vom rothen Ecken
zum Finsteraarhorn hinansteigt, allein da wölbten sich
vor uns allerlei breite Eisrücken, durchsäet von Guffer-
inseln, und die Eisrücken versperrten den Blick nach
den obern Lagen. Während der erzwungenen Rast
wurde daher Jakob auf Recognoscirung gesandt, damit
wir von Anfang an die rechte Richtung einschlügen.
— 77 — '
So gewannen wir auf ein paar Stunden ganz gute
Fühlung, immer im Schnee steigend, zwischen der
Bergkette und den kleinen Felseninseln hindurch. Un-
terdessen war der Tag wahrhaft herrlich aufgegangen.
Der Segen dieses Jahres, der Föhn, hauchte uns milde
an, und hinter den Walcher Hörnern hervor stieg nach
und nach immer grossartiger der Stock des Aletsch-
homs. Die feine weisse Spitze des Homs selbst er-
kannten wir erst später in ihrem Glänze, denn die
Felsenschultem drängen sich so hoch und breit zu ihr
hinauf, dass der Berg lange Zeit eine' recht unge-
schlachte Figur macht, eher schreckhaft, als schön.
Weiter im Süden entwickelte sich die Walliser Kette;
doch, so grossartig auch dieser Hintergrund ist, die
Kolosse der nächsten Nähe packen so lebhaft die Auf-
merksamkeit, dass man jene fernen Biesen nur gleich-
sam als Zugabe mitnimmt.
Die Fahrt ging ohne jede aussergewöhnliche Be-
schwerde von statten. Es war eben ein beständiges,
bald sanfteres, bald strengeres Steigen im Schnee, ohne
besondere Schwierigkeit und namentlich ohne Gefahr.
Nur Eines machte sich uns nach einigen Stunden spürbar,
nämlich wieder die durchwanderte vorletzte Nacht, für
welche das kalte Bivouac auf dem Bothhomsattel einen
nur sehr spärlichen Ersatz geboten hatte. Diese nächt-
lichen Strapazen Hessen uns Alle schneller die Müdig-
keit fühlen, als es unter andern Umständen der Fall
gewesen sein würde, weshalb ich denn auch die Zeit,
die wir zur Erklimmung unseres Zieles brauchten, nicht
als eine normale betrachtet wissen mag.
Zwischen 6 und 7 Uhr pflogen wir unserer ersten
Eastj, auf einem Gufferrücken, deren der Gletscher an
dieser hohen Abdachung mehrere hervorstösst, um vom
Absatz zu Absatz nach der Gletschersohle hinunter zu
— 78 —
gelangen. Hier versperrte aufs Neue eine höhere Wöl-
bung die Aussicht, so dass noch einmal eine Becogno-
scirung nöthig wurde. Diese nahm Kaspar selbst vor.
Kaum hatte er die Höhe erreicht, so gab er uns sofort
das Zeichen zum Nachrücken, denn dort war .der Weg
wieder klar. Wie ich denn gleich hier bemerken
will, dass die Ersteigung des Finsteraarhorns ungleich
leichter ist, als man sich's bisher vorgestellt zu haben
scheint. Wenigstens bis zum letzten Absätze, 600 Fuss
unter der Spitze, bietet der Marsch durchaus keine
Erscheinung dar, die nicht auf vielen andern Gletscher-
bergen auch vorkäme. Man steigt nur hoch, recht
hoch, ja! aber hiezu bedarf es blos einer ausdauernden
Lunge, durchaus keiner besondem Courage. Von
aussergewöhnlicher Gefahr keine Spur. Ebenso habe ich
vergebens auf die berühmte Bergkrankheit gewartet
Ausserdem zeigen dem Führer, der einmal im Besitze
des Stichwortes ist, die Finsteraarhomkette zur Rech-
ten, die mehrerwähnten Grufferinseln zur Linken, und
in der Front der Marschroute die quer und von Absatz
zu Absatz höher sich entgegenstemmenden Eisrücken
die einzuhaltende Richtung deutlich an. Man braucht
sich nur hübsch in der Mitte zwischen der Kette und den
äussersten Inseln zu halten und die Eisrücken in gera-
der Linie zu durchschneiden. Zur Linken der äusser-
sten Inseln stürzt der Theil des Gletschers, auf welchem
wir uns bewegen, steil und plötzlich nach dem Haupt-
strom hinab, der vom Viescher Grat kommt und das
früher erwähnte grosse Gletscherthal bildet.
Etwas nach 9 Uhr erreichten wir den letzten jener
Querrücken, auf dessen nördlicher Abdachung sich das
Fimfeld ausbreitet, mit welchem das Finsteraarhom
so prächtig nach Westen und Nordwesten hinausstrahlt
und das zu Zeiten an schönen Sommerabenden zuletzt
— 79 —
verglüht, wenn selbst die Jungfrau ihr weisses Nacht-
gewand anzieht und alle übrigen Berge der Nachbar-
schaft dem Tag Ade gesagt haben. Jetzt standen wir
aber auch so hoch, dass wir über die Kette der Viescher
Hörner hinaus mitten in das ungeheure Eismeer des
obem Aletschgletschers hinein blickten. Es war ein
majestätisches Anschauen, diese weite, breite Gletscher-
wüste, blendend in der Vormittagssonne. Links, als
südwestliche Wacht, stand das Aletschhom da, das alle
übrigen Gipfel überragt. Schnurgerade im Westen er-
hob sich als blanker weisser Kegel die Jungfrau, doch
taucht der Kegel mühsam aus der unendlichen Fim-
masse hervor und seheint viel weniger sie zu beherr-
schen, als von ihr beherrscht zu werden. Wenn die
Jungfrau, von Bern, Interlaken oder der Wengemalp
gesehen, gleichsam an die gestrenge Königin Elisabeth
erinnert, so kehrt sie hier mehr die Natur des un-
schuldigen Gretchens heraus: sie weiss nicht, dass sie
schön ist; sie ahnt nicht, dass sie von der Welt be-
wundert wird; die ganze gewaltige sie umgebende Welt
ist wirklich auch grösser, und wer den mit Recht ge-
feierten Berg nicht von Ruf und namentlich nicht
von der wundervollen Gestalt, die er nach Norden
weist, kennte, würde mancher andern Spitze dieses
mächtigen Reviers einen hohem Rang zugestehen.
Aber schön, rein ist und bleibt die Jungfrau auch
hier. Nicht wenig tragen zur Erhabenheit des Ge-
sammtbildes die beiden Arme bei, mit welchen die
Jungrau die westlichen und nördlichen Wurzeln des
Aletschgletschers umspannt: hier durch das Glet-
scherhom, die Ebene Fluh, das Mittagshom und die
sie verbindende Kette, dort durch den Mönch und
seine Umgebung. Der Mönch macht hier eine noch
bescheidenere Miene, als die Jungfrau, aber xmUebrigen
— 80 — .
schien er mir recht vergnügt auszusehen, indess der
noch weiter nördlich gestellte Eiger mit seiner starren
Felsenbekleidung mürrisch dastand, ungehalten zweifels-
ohne, dass er an dem kolossalen Gletscherbilde nicht
mitwirken darf, sondern i^ebenaus imter die Zuschauer
verbannt ist.
Das Fimfeld, das wir jetzt betraten, kostete uns
manchen sauem Schweisstropfen» und manchen schweren
Athemzug. Es ist ungemein steü, so dass wir lange
Strecken im Zickzack und auf sehr kurze Etappen
marschirten. Namentlich an einer Stelle, an welcher
wir, wenn ich mich recht besinne, bei drei Viertel-
stunden laboriren mussten, war es so stark von unten
nach oben gewölbt, dass mir manchmal schien, wir
kröchen. Fliegen gleich, auf der Oberfläche einer grossen
Kugel. Zu Allem machte die Sonne auf höchst em-
pfindliche Weise ihre baldige Mittagshöhe geltend: sie
brannte lästerlich auf den blendenden Firnschnee, gegen
dessen stechenden, aber unaussprechlich schönen Wi-
derglanz das Auge selbst durch die doppelte Hülle der
blauen Brille und des Schleiers nur spärlich geschützt
war. Die Hitze von aussen und die höchste Anspan-
nung der Lunge und der Muskeln hatten schon so
ziemlich Alles, was sich im menschlichen Körper zu
Schweiss gestalten kann, ausgepresst, die Hautporen
waren nachgerade so trocken, wie das Bett der tro-
pischen Flüsse vor Eintritt der Regenzeit, die Sonne
brannte auf unsere verschmorten Gesichter wie auf
wasserleere, oasenlose Wüsten. Wenn ich und meine
Gefährten eine Woche lang nachher wie halbe Men-
schenfresser ausgesehen haben — von mir wenigstens
bezeugt es der Spiegel — , dann müssen die paar
Vormittagstunden das Meiste an dieser Wandelung
verantworten.
— 81 —
Endlich ward doch auch dies überwunden. Um
V2II Uhr erreichten wir denHugisattel, das heisst den
scharfen Berggrat, der den obersten Fuss des Finster-
aarhorns bildet. Hier, auf einer Höhe von 4080 Me-
tern (12,560 Fuss), also genau auf gleicher Linie wie
die höchste Spitze des Schreckhoms, nimmt der Firn
ein Ende, weil ihm die übergrosse Steilheit der Finster-
aarhomspitze keinen bleibenden Halt gestattet. Seinen
Namen führt der Sattel zu Ehren des Solothumer Natur-
forschers Hugi, der am 10. August 1829 die erste
beglaubigte Ersteigung des Finsteraarhorns veranlasste.
Auf dem Hugisattel trafen wir eine herrliche Aus-
sicht. Westlich schauten wir siegreich über das Agas-
sizhom und das Grosse Viescher Hom hin; östlich ragte
der Gipfel des Finsteraarhorns etwa 600 Fuss hoch in
die Luft; nordwärts schoss von unsern Füssen weg, so
zu sagen pfeilschnell, ein schmales Fimfeld zum Fin-
steraargletscher hinab; hinter dessen jenseitigem Ufer
unter vielen und sämmtlich überwundenen Bergen das
Schreckhorn mit seiner zierlichen weissen Krone auf
dunkler Granitpyramide emporstrebte, wie gesagt, in
gleicher Höhe mit uns. Nach Süden und Westen
schweifte der Blick über Viescher und Aletsch-Gletscher
hin und über ihre Gipfel hinaus an die Walliser Kette
und zum Montblanc.
Hier muss ich den Herren Physikern eine Nuss
zum Knacken aufgeben. Was mich nicht am wenig-
sten zur Ersteigung des Finsteraarhorns J)ewog, war
die Stelle in Gottl. Studer's „Panorama von Bem"^
p. 223, worin gesagt ist, Hugi habe etwa 200 Fuss
unter der Finsteraarhomspitze (auf die Spitze selbst
wagten sich nur seine Führer Leuthold und Währen)
einzig das nahe Schreckhorn und die Viescher Homer
deutlich sich hervorheben sehen; die kaum drei Stunden
Roth, Flnstera^irhornfabrt. 6
— 82 —
entlegenen Kuppen der Jungfrau, des Eigers und des
Mönchs hätten sich bei weitem nicht in so bestimmten
Umrissen gezeigt, als sie von Solothum, aus einer
Entfernung von 18 Stunden, gesehen werden. XJeber
das Hasli- und Lötschenthal hinaus sei nichts Einzelnes
mehr sichtbar gewesen, und doch habe die Atmosphäre
vollkommen günstig geschienen. Studer fügt hinzu, ein
Jahr später hätten sich diese Lichterscheinungen wieder-
holt. Als Leuthold und Währen die Spitze erkletterten,
hätten ihnen eine Menge Menschen auf der Grimsel
durch den Tubus Zugesehen und sich darüber streiten
können, wer, da sie nur zwei statt der erwarteten drei
Männer gewahrten, die Beobachteten waren; die Männer
auf dem Hom aber hätten, obschon mit besserem Tubus
bewafinet, und beim hellsten Wetter, nicht einmal das
Thal der Grimsel, noch den See, noch den Spitalberg
unterscheiden können. Ich gestehe, diese Mittheilung
reizte meine Neugier in hohem Grade: ich hätte gar
zu gern die Beobachtung gemacht, wie es einem Men-
schenkind zu Muthe sein mag, das dergestalt der Erde
gleichsam entrückt ist und ein paar Minuten im gren-
zenlosen Universum schwebt. Ich versprach mir hier-
von einen mächtigen und eigenthümlichen Effekt, und
ich trat daher die Beise mit der festen Erwartung an,
hier oben im Himmel drinnen auch bei gutem Wetter
von unserm armen Planeten so viel wie nichts zu sehen.
Wie sehr war ich nun erstaunt, das vollständigste
Gegentheil des Erwarteten zu finden, nämlich eine Klar-
heit, eine Schärfe in den Umrissen auch der entfern-
testen Gegenstände, die nichts zu wünschen übrig liess.
Wenn Leuthold und Währen durch den Tubus nicht
die Grimsel entdecken konnten, so haben wir dagegen
freien Auges sehr deutlich die einzelnen Häuser im
Grindelwaldthal unterschieden. Auch in die fernen
— 83 —
Berge hinein schauten wir so klar, wie das Jahr vor-
her von dem nicht 9000 Fuss hohen Schwarzhom;
nur mit dem Unterschiede, dass sich uns hier eine
unendlich umfassendere Welt aufthat. Gleiche Erschei-
nung eine Stunde später auf dem Gipfel des Finster-
aarhoms selbst. An der Richtigkeit der oben erwähn-
ten, mit unsern Wahrnehmungen so stark contrastiren-
den Erscheinungen ist nicht zu zweifeln; allein worin
mag wohl der Grund so merkwürdiger DiflFerenzen
liegen? Sollte der feine dünne Föhn, der zu unserer
Zeit durch die gesammte Alpenwelt strich, ganz allein
im Stande sein, solche Wunder zu verrichten?
Doch genug des gelehrten Zeugs, und lasst uns
keck die letzte Etappe beginnen.
Wir hatten eben eine neue Stärkung zu uns ge-
nommen und schickten uns zum Aufbruch an, als die
Aufmerksamkeit durch zwei lebendige Wesen in An-
spruch genommen wui^de: ein** paar Bergdohlen flogen
vom Felsen auf und flatterten fröhlich über den Firn
hin. Was müssen dies für närrische Vögel sein, dass
sie ihren Tummelplatz in so enorm entlegenen Höhen
suchen, während die Welt doch so weit ist. Oder
wollten sie spottend uns an unsere eigene Narrheit
erinnern?
Es war etwa Va 12 Uhr, als wir uns an die letzte
Arbeit machten. Die Finsteraarhomspitze erhebt sich
von dieser Seite mit ihren etwa 600 Fuss als eine
gewaltig steile und dünne Felsenscheibe. Es ist eigent-
lich mehr nur ein jäher Grat, der auf seinem höchsten
Punkte einem zu gleicher Höhe gelangten Quergrat
begegnet und dergestalt den Gipfel des Berges im
Dreieck zuspitzt, die eine Wand nach Norden, die
andere nach Osten, die dritte nach Süden weisend.
Um den von Westen aufsteigenden Grat erklettern zu
6* •
— 84 —
können, mass man sich gänzlich schwindelfrei fühlen.
An der Nordseite ist die Wand so entsetzlich scharf
abgeschnitten, dass sie auch nicht an der kleinsten
Stelle, den Fuss hinzusetzen erlaubt; die südliche Wand
hingegen, obschon auch ausserordentlich steil, ist gang-
bar oder, besser gesagt, zu erklettern. Es geht nicht
anders, als auf allen Vieren, Hände und Füsse finden
ununterbrochen zusammen zu arbeiten, und es ist sehr
nöthig, dass bei jedem Schritt beide Füsse auf sichern,
festen Stein treten und bei jedem neuen Ausholen beide
Hände sich an sichern festen Stein anklammem. Diese
südliche Wand ist nämlich reich mit verfaultem schie-
ferigem Gestein bekleidet, das sich beim Anfassen löst
und dann polternd stürzt, um entweder bald durch
einen grossem Stein in seinem Lauf aufgehalten zu
werden, oder, wenn es selbst das schwerere ist, eine
Menge andern Gesteins aufzustören und mit ihm ein
rasendes Wettrennen in unergründliche Tiefen zu eröflf-
nen. Obschon wir bei dieser hie und da etwas kitzligen
Fahrt kein Wort sprachen, sondem schweigend Einer
hinter dem Andern der von Kaspar gezeichneten Spur
folgten, war es doch ein ziemlich geräuschvolles Ge-
schäft; es verging, glaub^ ich, keine Minute, dass nicht
unter diesem oder jenem Fusse der Stein brach und
seinen wilden Tanz begann, oder dass der Hand, die
ihren Mann in die Höhe ziehen sollte, der ange-
&sste Stein in der Faust blieb und dann verächtlich
in den Abgrund geschleudert wurde. Glücklicherweise
war aber auch des festen Granits genug vorhanden,
auf welchem man sicher vorwärts kam; man durfte nur
bei keiner einzigen Bewegung die goldene Regel ausser
Acht lassen: Trau, schau, wem. Fiel in das fast drol-
lige Concert von rutschenden, rollenden und springen-
den Steinen dann und wann ein dumpfer Basston ein,
-So-
so entstand wie auf Kommando ein plötzlicher Halt in
unserer Kolonne und es wurde dem Schauspiel zuge^
sehen. Dann war es nämlich ein Kerl, der gut seine
paar Zentner wog und auf festen Felsen nicht gerutscht
war, sondern gesetzt hatte, der Anprall verlieh ihm
neuen Schwung und nun sprang der Stein, in oft
prächtigen Sätzen ricochettirend, nach dem gewaltigen
Abgrund.
Wie doch das Liebliche und das Wilde so nahe
beisammen wohnen! Einer jener Steinstürze war kaum
verhallt, als auf einmal aus der gleichen Tiefe, wohin
der Block gefallen, ein paar Fluhlerchen, kleine graue
allerliebste Vögelchen, heraufgezwitschert kamen, sorg-
los an uns vorbeiflogen und nicht eher ruhten, als bis
sie ihren Fuss auf die höchste Spitze des Horns gesetzt.
An dieser Stelle hätte ich eher einen grimmen Lämmer-
geier mit wuchtigen Schwingen erwartet, als solch' ein
leichtbefiedertes Liebesvölkchen.
„Vorwärts! vorwärts!" kommandirte Kaspar.
Jetzt packen meine Hände, beide zusammen, einen
zackigen Grat, sie rütteln ferm dran, aber er sitzt
urfest; ein Euck, und der Oberleib hebt sich auf den
Grat, der Kopf aber schwebt plötzlich über dem nörd-
lichen Abgrund der gewaltigen Felsenscheibe, und senk-
recht, etwa 5000 Fuss tief, schiesst der Blick zum
grünen Strome des Finsteraargletschers hinab. Beim
Zeus, hier darf es euch nicht schwindeln!
„Vorwärts! vorwärts!"
Kaspar hatte Recht, denn dieser grause senkrechte
Absturz war im Stand, auch dem Festesten Sinne und
sichern Blick zu verwirren. Wir bogen rasch wieder
in die südliche Wand hinein. Allein es half wenig.
Auch die Südwand hat hie und da ihre glatten, un-
gangbaren oder getährlichen Stellen, und wenn man
— 86 —
einmal auf die Spitze wollte, so musste man zeitweise
immer wieder zur Gratscheide zurückkehren, um auf
ihrem schmalen Pfade den Körper über zwei Abgründen
zu wiegen.
Diese Kletterung an der Spitze des Homs dauerte
eine Stunde und war mir im Uebrigen ein recht unter-
haltendes Stück, da es mir jederzeit am Felsen, auch
wenn er noch so steil, weit wohler ist, als auf dem
trügerischen Eise. Nur aufpassen, nur immer aufpassen.
Als wir um Va 1 Uhr einen neuen Felsenabsatz
überklommen hatten, ha! da lag der Gipfel des Finster-
aarhorns vor uns in allernächster Nähe. Die Felsen-
scheibe war etwas ausgeweitet und auf ihrem höchsten
Punkt ragte ein aus losem Schiefer aufgemauertes
Steinmannli auf, an der östlichen Wand aber, gegen
die Grimsel zu, hatte sich eine Schneewechte angesetzt,
nicht unähnUch einem ausgeflogenen Bienenschwarm,
und die Wechte theilte sich noch weiter der östlichen
Abdachung des Felsens mit. Heller Jubelruf verkün-
dete das erreichte Ziel, aber gleich darauf folgte ein
allgemeines frommes, stummes Staunen über die Uner-
messlichkeit der rings um uns ausgebreiteten sonnigen
Welt.
Dem, der noch nie mit eigenen Augen solche
Herrlichkeit genossen, einen Begriff von derselben zu
geben, ist rein unmöglich. Wenigstens ich kann mich
nur annähernd mit Vergleichungen behelfen. Bedet
dem Norddeutschen, der noch keine Berge gesehen,
vom Eigi: ihr braucht nicht ßedner zu sein, euer nur
schon von der Erinnerung trunkener BUck weckt gross-
artige Bilder im Hörenden auf, und wenn dieser erst
selbst so glücklich ist, an einem hellen Nachmittag den
ewig schönen Weg von Weggis nach Rigikulm zu gehen,
dann verscheucht die nackte, grössere Wirklichkeit alle
— 87 —
seine noch so kühn geträumten Gebilde der Phantasie
und sie verfliegen mit den Nebeln des See's in matte
Phantome. Lasst ihn vom Rigi zum Faulhom steigen
oder zum noch preiswürdigeren Schwarzhöre, zum
Sidelhom oder Titlis: da wird er inskünftig den Rigi
als einen allerliebsten hoffnungsvollen kleinen Jungen
lieben, in den Letztgenannten aber die Symbole der
bewussten Jugend finden, die den Idealen nahesteht
und sehnsüchtig zu ihnen hinaufstrebt, hoffend, sie eines
Tages erreichen zu können. Führet ihn von da auf
den Piz Languard: und er trifft den gemachten Mann,
der festen BUcks sein Leben und seine Zeit überschaut.
Mehr kann man einem richtigen Menschen nicht zu-
muthen. Wohlan, ni^n lasst es ihm schliesslich ge-
lingen, sich zu uns auf den Gipfel des Finteraarhoms
zu erheben, in demselben Sonnenschein, in derselben
fbhnklaren Luft: und er steht vor einem Herrscher,
einem Helden, der nicht allein sich selbst und seine
Zeit in der Hand hat, sondern einem Jahrhundert den
Stempel des Genies aufdrückt. Wer vom Flachlande
her kommt und zum ersten Mal unsere hübschen und
mit Recht berühmten Vorberge besteigt, wird ungleich
weniger erstaunen, als derjenige stutzt, der die Aus-
sichten der Vorberge kennt, sich danach die Wirkung
der höchsten Alpengipfel glaubt vorstellen zu können
und eines Tages wirklich auf einem solchen steht. Es
ergeht ihm dann wie jenem Weisen, der am Ende eines
von genialem Denken erfüllten Lebens das Geständniss
ablegte, das Ergebniss alles seines Wissens sei, dass
er nichts wisse. Ganz eben so begreiflich unbegreiflich
ist die Wirkung des Ungeheuern, das der Gipfel des
Finsteraarhorns weist, ist das Bewusstsein, über Alles,
Alles hin zu schauen, was die Menge als kühn, gross
und erhaben preist, und dabei doch den! Kleinsten
— 88 —
noch nahe zu bleiben, wie jenen 10,000 Fuss tief unten
in der Mittagsonne glänzenden Häuschen des Grindel-
waldthales.
Sehr wohll — höre ich erwidern — da man vom
Strassburger Münster und vom Dom in Mailand zu-
gleich das Finsteraarhorn sieht, so muss umgekehrt der
König der Berner Alpen auch die Kapitalen des Elsasses
und der Lombardie beherrschen, und ein gut Stück
Land über beide hinaus, und Alles, was dazwischen
liegt, ja Alles, was in die Peripherie dieses gewaltigen
Durchmessers fällt, mit einziger Ausnahme dessen, was
die noch höhere Kette der penninischen Alpen gegen
Piemont hin 'verdeckt. Gewiss, etwas Kolossaleres,
etwas Majestätischeres lässt sich nicht leicht denken,
und diese Ungeheuerlichkeit mag an und für sich schon
ein Genuss sein. Ich begreife den mächtigen Eindruck,
oder wenigstens ahne ich ihn. Allein
Was, allein?
Allein es muss doch eigentlich ein endloses Nichts
sein, gewissermassen ein idealisirtes Chaos, wo Gross
und Klein in einander schwimmt, alle Verhältnisse sich
verrücken, die Form verflacht, die Farbe erlischt und
nur eine unübersehbare Masse daliegt, wie willenlose
Sklaven im Staube zu den Füssen ihres erhabenen
Gebieters.
Halt, Grübler! dahabe ich dich am rechten Fleck.
Erinnere dich, dass unser Held ein Schweizer ist, ein
Berner gar. Da läuft es natürlich ohne gehöriges
Selbstbewusstsein nicht ab, und sogai* ein wenig Stolz
mag hingehen; allein gedeihen und herrschen kann hier
nur der Gleiche unter Gleichen. Und gerade das ist's,
was dem Finsteraarhorn seine schönsten Zauber ver-
leiht. Es herrscht eine wunderbare Fülle in diesen
Ausblicken*, das Viele aber sammelt sich wieder in drei
— 89 —
kolossalen Gruppen, deren jede [für sich allein die ganze
Finsteraarhornfahrt werth wäre.
Sieh' dal 5000, vielleicht 6000 Fuss schnurgerade
zu unsern Füssen spreizt sich der Finsteraargletscher.
Links kommt er von der Strahleck herab als ein mäch-
tiger meergrüner Strom, seine Wogen baden den Fuss
des Homs und drohen ihn zu unterwühlen; doch das
wuchtige Eis prallt ohnmächtig ab am Granit und
flüchtet in strömendem Bogen von dannen. Lange
schwarze Gufferlinien folgen der krystallisirten Fluth
und vollenden die Täuschung, dass man meint, der
Gletscher woge und rausche und werde drüben hinter
dem nächsten Berg als ein zweiter Niagara zerstäuben.
Fort! weg den Blick! er verwirrt dir den Sinn und
reisst dich hinab mit geheimnissvoller Gewalt! — Schau',
wie am jenseitigen Ufer sich eine kecke Bergwand er-
hebt und in der wunderbar schlanken Pyramide des
Schreckhorns ausgipfelt. Wir sehen hinunter auf die
zierlich weisse Krone, die seine dunkle Gestalt schmückt,
über sie hinüber zum Wetterhom, und über das Wet-
terhorn hinaus in die weite nördliche Welt. Ja wohl,
hier verschwindet der Blick im horizontlosen All, wo
selbst Jura und Vogesen und Schwarzwald sich ver-
flachen wie zertretener Kies auf der Heerstrasse. Der
Blick eilt zurück zum schauerlich schönen Abgrunde
des Gletschers und bleibt, selbst starrend, an das star-
rende Wunder gebannt. Doch auch diesmal weile nicht
zu lang bei dem Bilde, es liegt eine verrätherische
Schwindelkraft darin, wie auf hochgehender See im
Anstaunen der Wogen, die an die Schiffsplanken schla-
gen; und wie wollten wir von unserer luftigen Felsen-
scheibe wieder heil zur Niederwelt zurückgelangen,
wenn uns die Sinne verliessen und dem Leibe ihren
Beistand verweigerten?
— 90 — ,
Am Ende kostet es auch keine sonderliche lieber-
Windung, vom Grausig-Grossen zum Feierlich-Erhabenen
überzugehen; und diesen Gegensatz bietet im Vergleich
zur nördlichen Aussicht der Blick nach Westen und
Süden und nach alle der HerrUchkeit, welche diese
zwei Badien einschliessen. Da zeigt sich zunächst,
wieder hart zu unsem Füssen, der grosse weisse Kessel
des Viescher Gletschers. Dann folgen wir dem Viescher
Grat bis zum Mönch hin und sehen, wie der Grat
rechts die Firne des untern Grindelwaldgletschers ent-
sendet, links aber dem gewaltigen Circus des Aletsch-
gletschers zur nördUchen Grenze dient. Noch weiter
rechts steht beinah' isohrt der Eiger hinter dem Glet-
scher, und die Starrheit dieses Berges wird nur dadurch
gemildert, dass unmittelbar neben ihm aus fernem
grünem Grunde das Dorf Grindelwald herauf lugt. Links
vom Viescher Grat in gemessener Entfernung : die Jung-
frau und ihre Kette, die ihr von Murren aus so lebhaft
bewundert. An alle Kulme und an alle Sättel dieses
mächtigen Halbkreises hinauf strebt der Aletschgletscher
mit ungeheurer Wucht, er erdrückt die Sättel, ja
manchmal selbst die Bergspitzen, und wenn es ihm
nicht gelingt, auch die gefeiertsten Gipfel in der eisigen
Masse zu begraben, so reisst er doch unerbitthch Allen
den Zauber der Unnahbarkeit und überragender Hoheit
vom Haupte. Er ist ein höchst demokratischer Kerl,
dieser Aletsch, wie er mit den Majestäten Mönch und
Jungfrau umspringt, wie er sie zwingt, recht buch-
stäblich bis an den Hals im Volke zu stecken. Und
was dabei das Schönste: die Gesammtheit verliert nichts
dabei; im Gegentheil. Es ist nicht nur eine merkwür-
dige Abwechslung, hier einmal, statt die hochgebomen
Gipfel über die Gletscher, umgekehrt die hochwogende
Gletscherfluth über die GipfeL herrschen zu sehen; es
— 91 —
ist zugleich eia imposanteres Schauspiel, weil eine die
einzelnen Berge weit überragende Masse in Thätigkeit
tritt und das schimmernde Weiss dieses Firnmeeres
sich in entzückende Harmonie setzt mit dem schwarz-
blauen Himmel. Nur Einer ist, der, am südwesthchen
Saume des Firnes, noch pompöse dasteht und durch
seine hochstrebende weisse Gipfelpyramide verräth, dass
er sich einzig vor dem Finsteraarhom beugt: das
Aletschhom. Doch auch von diesem weg fliegt das
Auge mit Vorliebe wieder zur tonangebenden Macht
dieser Region zurück. Nicht durch die Grösse allein
packt der Aletschfim den Beschauer, und durch sein
herrliches Weiss, es hegt zugleich eine wunderbar er-
habene Ruhe in ihm, und er dämpft recht eigenthch
die Leidenschaft, die eben noch der reissende Strom
des Finsteraargletschers erweckte. Und wie grossartig,
bald hätt' ich gesagt, wie überirdisch muss diese Ruhe
erscheinen, wenn man bedenkt, dass von den vielen
Bergen und Gräten, welche den Aletsch einfassen, eine
geradezu zahllose Menge einzelner Firne und Gletscher
zu seiner Sohle hinabstürzen. Kleinere Reviere, wie
der Wetterkessel am Fusse des Wetterhoms, werden
durch einen solchen von allen Seiten erfolgenden An-
sturm mächtig aufgerührt gleich einem brodelnden
Gischt; der Aletsch aber saugt Alles auf, wie der
Bergsee die tobenden Wasserlalle, und er begräbt selbst
den wildesten Firnsturz unter seinem ruhigen Plan.
Und nun schweifet einen Augenblick über Viescher
und Aletsch-Gletscher hinaus in die Weite. Da schliesst
das Bild nicht, wie im Norden, mit leerer Fläche und
unbegrenztem Horizont, wo Himmel und Erde in ein-
ander aufgehen, sondern wir beherrschen in einem
Blicke die gesammte Südgrenze des Wallis und noch
mehr dazu: die langgestreckte Kette, die mächtigste
— 92 —
unsers Erdtheils, vom St. Gotthafd zum Monte Rosa
und vom Monte Rosa bis zum Montblanc. Und doch —
werdet ihr's glauben? — überwältigt auch dieser kolossale
Anblick nicht mehr, er bildet nur einen wundervollen
Rahmen zum Aletsch und seinem näheren Bergkranze,
der immer und immer wieder die Sinne gefangen nimmt
durch strahlende Pracht und majestätische Ruhe.
Während ich in diese Betrachtungen versunken
war, that der Menk seine Pflicht. Er wusste, was
man einem wackem Berge nach seiner Besiegung
schuldig ist: er hatte in seiner Wammstasche eine
währhafte Flasche mitgebracht, um sie auf das Wohl
des Homs zu kredenzen, und war nun mit der Ent-
korkung beschäftigt. Jakob hatte den Auftrag, das
Wahrzeichen der Ersteigung, das rothe Fahnentuch,
an einen Alpstock zu befestigen, und Kaspar, der
Chef, that einen prüfenden Blick in das Steinmannli,
das auf dem höchsten Punkt der Spitze, die an zwei
Seiten des Mannli auf unebenem Grund uns Allen zu-
gleich nur spärlich Platz gestattete, errichtet ist. Die
aus losem Schiefer, wie ihn der Gipfel des Finsteraar-
horns reichlich aufweist, thurmartig aufgebaute Mauer
zeigte, nachdem man einige Steine gelüftet, in ihrem
Bauche mehrere Flaschen. Bis auf eine aber waren
sie sämmtlich an die Steine angefroren, weshalb wir
sie unangetastet Hessen. Die eine lose aber wurde
geöffnet, und wir fanden darin die Karte eines eng-
lischen Reverend. Dann notirte ich auf ein Blatt Papier
auch unsere Besteigung, worauf der Prophet und das
Weltkind in traulicher Eintracht zum Flaschenhals hin-
einschlüpften, um schon vier Tage nachher von drei
Engländern in Begleitung des renommirten Führers
Melchior Anderegg von Meningen wieder an's Tages-
licht gezögen zu werden.
— 93 -^
Nachdem die Flasche versorgt und sorgfältig zu-
gemauert war, handelte es sich um das Aufpflanzen der
Fahne. Dies bildete einen etwas schwierigen Casus. Ihr
natürlichster Platz war die Spitze des Steinmannli's, und
hier wäre sie leicht zu errichten gewesen; nun wurde
aber diese Spitze von der vorhin erwähnten Schnee-
wechte überragt, und zwar bösartiger Weise just in
der Richtung der Grimsel, wo wir die Weisung hinter-
lassen hatten, uns an diesem Nachmittag aufzupassen,
um durch Entdeckung unserer Fahne die Besteigung
zu constatiren. Hätten wir das Tuch auf die Mauer
gepflanzt, dann würde es in der Grimsel nicht gesehen
worden sein. Es blieb somit für unseren Zweck keine
andere Stelle übrig, als die Höhe der Wechte. Aber
die Wechte war eben eine Wechte, d. h. ein horizontal
am senkrechten Felsen hangender Schnee, von dem
man nicht wissen konnte, ob er seinen Mann trage;
und diese angeflogene weiche Masse hing über einem
Abgrunde von vielen tausend Fuss. — Pah! Hatte
nicht ein Jahr vorher auf dem Wetterhorn der Menk
unsere Fahne auf einem gleich gefährlichen Punkt auf-
gepflanzt? warum sollte es jetzt schlechter gehen? So
dachte Kaspar, besann sich nicht lange, reichte seinen
Brüdern das Ende des um seinen Leib geschlungenen
Seiles, schwang sich behend, die Fahne in der Hand,
auf die Mauer, kroch von seiner Spitze weg behutsam,
sehr behutsam, in den Abgrund hinaus, auf die höchste
Wölbung der Wechte und steckte die Stange mit
kräftigem Stoss tief, bis an's Tuch, in den Schnee
hinein. Dann kroch er eben so sachte rücklings zur
Mauer zurück und nahm von dieser einen jauchzenden
Sprung auf das sichere Felsenpostament. Vier Tage
später hat Anderegg die Fahne von der gleichen Stelle
weggehoben und auf die Mauer verpflanzt.
— 94 —
Das rothe Tüchlein knatterte so muthwillig in der
Luft, als wollte es von dannen fliegen, und seine warme
Farbe nahm sich recht eidgenössisch aus auf dem
blanken Schnee. Allein nun mussten auch meine
Blicke wieder mit in die Weite schweifen, und sie
eilten in eine überaus grossartige Welt hinaus. Zu
Füssen gen Südosten lag jener namenlose Gletscher,
den wir gestern in der Abenddämmerung überschritten,
und der Gipfel des Oberaarhoms schaute sehnsüchtig
zu uns herauf. Beides beschäftigte nicht lange, wir
waren bereits durch die westliche Aussicht verwöhnt;
mehr zog die Welt hin, die sich nach Osten und Süd-
osten in die Feme dehnte. Auch die Reviere des
Triftgletschers und der Gotthardsstock mit ihren Aus-
strahlungen hielten die Aufmerksamkeit nur eine kurze
Weile fest; denn hinter der nordsüdlichen Linie, welche
die Thäler der Reuss und des Tessins beschreiben,
begann ein eigentlich grenzenloses Meer von Bergen,
Bergketten und Berggruppen, verschneite und unver-
schneite, und es gehörte ein förmliches Studium dazu,
um nur einen Anhaltspunkt zu finden, der in das Ge-
wühl einen topographischen Sinn brächte. Ich glaube,
wenn dieses Meer von Bergen ein vollkommenes Chaos
bliebe, so müsste sein Anblick schon ein wunderbarer
Genuss sein, einzig und allein durch die über jeden
auch noch so grossen hergebrachten Massstab weit
hinaus reichenden Proportionen, wo kein einzelner
Berg mehr etwas gilt, mag er lange seine 10,000 und
11,000 Fuss übersteigen, wo selbst ganze bedeutende
Bergketten mit Mühe aus den Tausenden von Gräten
und Quergräten hervorgesucht werden müssen. Man
ist aber vollends bezaubert, weim man bei näherem
Betrachten auch hier wahrhaft schöne Motive mit-
spielen sieht, die dem unermesslichen Ganzen Gliede-
- 95 —
rung verleihen und mit der GKederung den grossartigen
Effekt verdoppeln. Gleichsam wie in göttlichem üeber-
muth hingeschleudert, um als strahlende Leuchtthürme
aus dem Gewoge emporzuragen, sind in starken Zwi-
schenräumen hintereinander schimmernde Fimstöcke
aufgepflanzt, Säule unter dem Volke der Philister: erst
die Gruppe des Piz Valrhein in Graubünden, deren
Gletscherquellen zu gleicher Zeit der Nordsee und der
Adria zuströmen ; dann der Beminastock, der Herr des
VeltKn's und des Oberengadin's, wo der Inn seinen
Lauf zum fernen Euxin beginnt; endlich links hinter
ihm, nach Norden abweichend, der schlanke Orteies
und die Oetzthaler Femer in Tyrol, und rechts noch
viel weiter zurück, nach breitem leerem Räume, in
dessen Tiefe die lombardische Ebene und das Becken
des Gardasee's liegeh muss, eine im Horizont halb ver-
schwimmende Kette, wohl dieselbe, die das südliche
Tyrol vom Venetianischen trennt. Während nach Nor-
den hin die Gesichtslinie bald zusammenschrumpfte,
weil das Flachland keine Anhaltspunkte bot, kann hier
gegen Südosten das Auge, so weit nur die Rundung
der Erde es gestattet, dem Raum in fabelhafte Femen
folgen, weil es Alpen sind und aus der unzählbaren
Masse des niederen Volkes jene befimten und isolirten
Gestalten als Merkzeichen der enormen Distanzen auf-
tauchen. Sie reissen den Blick und mit dem Blicke
die Phantasie des Schauenden überwältigend hin. Wie
diese Femen an's ünermessliche grenzen, so ist mass-
los auch das entzückte Staunen des Glücklichen, der
einen solchen Tag erlebt.
Eine halbe Stunde lang drehte ich mich oft und
oft im Kreise, von einer Gruppe zur andern: vom
Finsteraargletscher zum Aletschfim, vom Aletschfim
zum Ausblicke nach Südosten, und vom Südosten zum
— 96 —
Finsteraargletscher zurück. Die Luft hauchte uns so
köstlich warmfrisch an, dass wir es ohne alle Beschwer
einige Stunden ausgehalten hätten. Leider war es uns
aber nicht vergönnt, diese Zeit auszudauern. Jetzt
nämlich begann Kaspar's Wetterkunde einen kleinen
Triumph zu feiern. Man erinnere sich, dass mein
Führer s^uf diesen Tag eine Erisis vorausgesagt hatte,
und eben zu dieser Stunde trat sie ein. Jener lange
Wolkenzug, der während des Vormittags über den
Walliser Alpen geschwebt, doch ohne uns deren Kulme
zu verdecken, war bereits in Bewegung gerathen und
trieb, vom Südwest gestossen, mit Macht den Bemer
Alpen zu. Vor sich her . sandten die Wolken einen
feuchten Nebelwind. In spätestens einer Stunde mussten
sie uns erreicht haben. Kaspar befahl beim Anblicke
dieser Erscheinung den Rückzug, damit, falls es eine
Weile arg werden sollte, wir uns an einer deckenden
Felsenwand befänden und nicht allen Winden des kom-
menden Sturmes preisgegeben wären. Man begreift,
wie sehr es schmerzen musste, so bald von den Wun-
dern des Finsteraarhoms zu scheiden, doch durften
wir dem Himmel unmöglich zürnen, der uns die schöne,
die über alle Beschreibung schöne halbe Stunde ge-
gönnt, während welcher wenigstens das Grösste in
festen, klaren Zügen sich dem Gedächtniss einprägen
konnte.
Die ßückkletterung ging in gleicher Weise und
gleich geräuschvoll vor sich, wie das Aufsteigen; nur
dass man diesmal beständig alle Abgründe im Gesicht
hatte und deshalb doppelt sattelfest in der Schwindel-
losigkeit sein musste. Nach drei Viertelstunden, um
%2 Uhr, standen wir neuerdings auf dem Hugisattel,
nahmen das hier gelassene Gepäck zu Händen und
eilten spornstreichs, so gut es immer der über Mittag
~ 97 -
stark erweichte Schnee gestattete, den Hochfirn hinab.
Rascher und rascher kam aber auch das Wetter uns
entgegen. Schon war das Aletschhorn von den Wolken
in Besitz genommen und ein Regenwind blies mit
Macht über den Viescher Gletscher zum Finsteraarhorn
herüber. Es dauerte nicht lange, so war auch dieses
unseren Augen entrückt und wir bekamen einen Regen-
schauer in's Gesicht, der uns überall willkommener ge-
wesen wäre, als auf dem verschneiten Eise. Doch der
Regen hielt nur kurze Zeit an, ein Windstoss machte
dem blauen Himmel wieder Luft und trieb die Nebel
über alle Sättel nach Norden hinaus, um — gleich
darauf aus Südwesten ein Schneegestöber heranzu-
schleppen. D'rauf noch einmal die Sonne, und in der
Folge ein beständiger Wechsel von Sonne, Regen und
Schneegestöber während der ganzen Zeit, die wir
brauchten, um zur Tiefe des Viescher Gletschers zurück
zu gelangen, nämlich bis 47* ühr. Dann klärte sich
Alles bleibend wieder auf und war wo möglich noch
schöner als zuvor. Firne und Felsen erschienen wie
blank gewaschen, und die ebenfalls frisch gebadete
Sonne verlieh dem gesammten Revier einen glanzvollen
Ton.
Roth, Finsteraarhornfahrt.
Irrfahrten.
Nach beendigtem Strubel, beim Wiedereintritt des
schönen Wetters, standen wir neuerdings am Fusse
des Rothhornsattels und schickten uns an, den Viescher
Gletscher zu übersetzen, um auf dem rechten Ufer das
Aeggischhorn zu erreichen, dessen Hotel uns ein ange-
nehmes Nachtquartier bieten sollte. Allein nachdem
wir bei der Hauptarbeit der Gunst des Berggeistes in
hohem Grade theilhaftig gewesen, mussten wir zum
Schlüsse des Tages noch den tückischen Kobolden in
die Hände fallen. Hier so wenig als zur Spitze des
Finsteraarhorns waren meine Führer je gegangen, wir
bewegten uns also fortwährend in einem uns Allen
gleich unbekannten Gebiet; aber auf dieser Route
sollte sich der Fehler rächen, den ich begangen, indem
ich nicht wenigstens Einen meiner Führer aus der mit
der Gegend vertrauten Dienerschaft des Grimselhospizes
gewählt hatte, was hiermit meinen Nachfolgern als war-
nender Wink vermerkt sei. Wie hätte ich mir's aber
auch träumen lassen, dass der Weg zum gefiirchteten
Finsteraarhom leichter zu finden sei, als der zum
— 99 —
unschuldigen Aeggischhom? Doch, so smd diese heim-
tückischen öletscher: hat man ihrer zwanzig überwun-
den, so will der einundzwanzigste wieder frisch studirt
sein.
Wir überschritten in der Diagonale den Gletscher,
wo er sich zwischen dem Rothhom und dem nordöst-
lichen Ausläufer der Walcher Homer hindurchzwängt,
um von da an in rascherem Fall zu Thal zu steigen.
Er befand sich hier auf dem Uebergange vom Firn
zum gefesteten Eise, und seine vom soeben gefallenen
Regen erweichte Oberfläche war mit unzähligen Schnee-
hügelchen gekräuselt, nicht unähnlich einem von sanfter
Brise erregten Seespiegel. Hie und da gab der lockere
Schnee unter dem Fusse nach und liess ihn in eine
Spalte gleiten, allein die Spalten waren schmal und
folgUch keine ernste Gefahr dabei. Der Marsch ging
denn auch rasch von statten, und bald befanden wir
uns im Süden des Bothhoms, mitten im Zusammen-
flusse des Viescher und des namenlosen Gletschers, der
in prächtigem breitem Strom von Osten herab wogt.
Kaum jedoch ist die Vereinigung der beiden Arme voll-
zogen, so verengt sich das Thal, dessen ganze Breite
der Gletscher zwischen hohen steilen Bergwänden aus-
füllt, das Gefälle des Eises wird stärker, die Spalten
klaffen auseinander, bald werden sie nackte meergrüne
Schrunde, erst regelmässig die Breite des Stromes
durchfurchend, dann unregelmässig, zuletzt wirr durch-
einander in die Kreuz und in die Quere fahrend, dass
man beinahe meint, einen von der Sonne des Sommers
gelösten arktischen Meeresarm mit zerrissenen und
vom Sturm gepeitschten grünen Stumpen zu über-
schauen.
Von weitem schon gewahrten wir, dass in dem
Wirrwarr nicht durchzukommen sei, und hielten daher
— 100 —
an das rechte Ufer an, zu dem mehrerwähnten Aus-
läufer der Walcher Homer, speciell zur Abdachung des
Wannehorns. Diese Abdachung strahlt gleichsam
föcherförmig in den Viescher Gletscher hinein, und der
hohe Rücken des Stockes ist mit einem breiten Glet-
scher bedeckt, der nur mit der südlichsten Spitze den
Viescher Gletscher berührt; der Rest ist Felsen, der an
seinem Fusse fast lauter senkrechte Wände darstellt,
auf einiger Höhe aber grüne Flecke für die Schafweide
bietet. Diese Weiden heissen die Trift und der über
ihnen hangende Gletscher Triftgletscher.
Nach der Trift war nun unser Trachten, und als
wir am rechten Ufer angekommen waren, überraschte
es uns sehr angenehm, sogleich einen mehr oder weni-
ger gebahnten Fusssteig zu finden, von welchem wir als
selbstverständlich annahmen, es sei der Weg nach dem
Aeggischhom. Es ging munter die Steig hinauf, zumal
das Gefühl immer ein ungemein wohlthueades ist, nach
langer nasser Eis- und Schneefahrt den Fuss auf
sichern Felsen und trockenes Gras oder Moos zu setzen.
Eine gute Weile stiegen wir aufwärts, als auf einmal
der Weg aulhörte. Vor uns in der Tiefe fiel der Fel-
sen steil und glatt zum Viescher Gletscher ab; vor
uns in der Höhe wälzte der Triftgletscher seine Eis-
massen so drohend über unsern Häuptern, dass wir
leicht begriffen, es sei über ihn nicht wegzukommen.
Wir waren in bester Form verirrt und bissen uns
tüchtig in die Finger. Nun wurde ich angewiesen, an
meiner Stelle, als Pivot der folgenden Operation, ruhig
zu verbleiben, indess die drei Führer in verschiedenen
Richtungen aus einander gingen, um einen Ausweg aus
der Klemme zu suchen. Der Eine ging da-, der An-
dere dorthin, und der Dritte einen dritten Weg, wo sie
sich Alle sehr bald aus dem Gesichte verloren. Nur
~ 101 —
zeitweise tauchte hier und dort Einer wieder auf. Ihre
gegenseitige Verbindung unterhielten sie durch Zurufe
und, wo diese nicht mehr verstanden wurden, durch
schrille Pfiffe und gellende Jauchzer, in welchen die
Bergleute eine Virtuosität besitzen, dass sie sich auf
stundenweite Entfernungen verständigen können.
Ich Pivot fand unterdessen Müsse, auf dem *' Grase
der Trift melancholische Betrachtungen über die Wal-
liser Bergwege anzustellen. Es war nicht das erste
Mal, dass sie mich foppten. Vor Jahren war ich mit
zwei Freunden ohne Führer über den Rawyl gegangen
und glücklich nach Ayent gelangt. Der würdige Prie-
ster des Ortes hatte uns mit gutem Muskateller und
passablem Käse bewirthet und bis zum Bande des
Dörfchens das. Geleit gegeben. Aufgefordert, da eben
die Nacht hereinbrach, uns einen Jungen seiner Heerde
als Führer nach Sitten mitzugeben, deutete er mit be-
deutungsvollem Finger nach der Richtung des alten
Sedunum und bemerkte mit dem Aplomb jener Sicher-
heit, die selbst das Mysterium der unbefleckten Em-
pfängniss nicht aus dem Sattel wirft: „Nur hier hin-
unter, Sie können nicht fehlen, meine Herren!" Bei
diesen Worten lüftete er sein japanesisches Pfaffen-
käppchen und wir empfahlen uns ehrerbietigst. Wir
glaubten Seiner Würden um so leichter, als just ein
ganz markanter, sogar gepflasterter Weg vor unseren
Augen lag und wir in unserer Unschuld voraussetzten,
es werde wohl noch besser, auf keinen Fall schlechter
kommen, je mehr wir uns der Eantonshauptstadt nä-
herten. Sonderbare Schwärmer! Der Weg blieb recht
gut und kenntlich etwa eine Viertelstunde lang, dann
aber ergoss sich ein Bach auf das Pflaster, und nach
und nach zweigten sich etliche Nebenwege ab, die theils
parallel dem Bache führten, theils allmäUg abseits in
— 102 —
die Wiesen und Felder verliefen. Auferzogen in ein-
seitigen cisalpinen Begriffen, denen zufolge ein Bach
ein Bach und ein Weg ein Weg ist, nicht ein Bach
ein Weg, noch ein Weg ein Bach, beschlossen wir, den
Bach gewordenen Weg zu verlassen und eine trocke-
nere Bahn zu verfolgen. „0, ihr Thoren!" rufe ich
heute uns Dreien zu, „warum soll denn die ganze Welt
über eure civiUsirte Schablone gespannt sein? Warum
soll nicht zur Abwechselung auch einmal ein Bach
einen Weg vorstellen können? Und bewahrt nicht ein
solcher vor dem lästigen Staube der Heerstrasse?" —
Ja, aber wer wird denn auch ^uf den Gedanken ver-
fallen, einen Bach und einen Kommunikationsweg in
ein und dasselbe Binnsal zu leiten? — „0, bei Gott
und der Faulheit der Menschen ist Vieles mögUch."
Kurz und gut, wir gingen beim hellsten Mondschein
irre und gewannen die rechte Richtung erst wieder,
als wir uns mit heroischer Verzweiflung in den Bach
stürzten und seiner Bahn folgten, nachdem wir uns zu
guter Stunde noch des wohlthätigen physikalischen
Gesetzes erinnert hatten, dass das fliessende Wasser ge-
meinigUch abwärts läuft, und es uns zuletzt einzig noch
darum zu thun war, in's Teufels Namen das Rhone-
thal zu gewinnen und d'runten nach der Hauptstadt
Sitten zu fragen. Das aber war wohlgethan, denn der
Bach führte uns schnurstracks nach Sitten. Wenn
nun Solches in der Nachbarschaft der Residenz pas-
siren konnte, was durfte man von dem entlegenen
Winkel des entlegensten aller Zehnten verlangen? Der
Weg, der uns in die Trift irre führte, war einfach eine
jener Schäfersteige, auf welchen die Hirten ihre Thiere
in die Weide treiben und stellenweise selbst tragen,
um sie nachher auf den rings von Gletschern einge-
schlossenen Eilanden ohne alle Aufsicht die ganze
— 103 —
Saison hindurch sich selbst zu überlassen und erst im
Herbst wieder abzuholen. Obschon daher von einer
überhängenden Wand ein paar neugierige Schafsköpf-
chen sich zu uns heruntemeigten, so konnten wir doch
darauf zählen, dass keine Hütte und kein menschliches
Wesen in der Nähe war.
„Hier geht's ! " rief nach langem Suchen aus weiter
Entfernung einer der Führer, und ein Posten theilte
die Meldung dem andern mit, so dass die kleine Ko-
lonne bald beim Entdecker versammelt war. Es ging
einfach den Weg, den wir gekommen waren, zum
Gletscher zurück, allein man hatte von oben entdeckt,
dass das nackte, zerrissene Eis irgendwo eine gangbare
Stelle bot.
Wir hatten glücklich die richtige Route gefunden
und zum Ueberfluss bekräftigte uns dies nach einer
Weile ein Zeichen auf der Moräne. Wo nämlich, aus
der Trift kommend, ein Gletscherbach über den Felsen
stürzt und unsere, sehr nach frischem Wasser lechzen-
den Kehlen netzte, gewahrten wir am Boden einige
Eierschalen und andere Reste einer kalten Mahlzeit,
untrügliche Beweise der früheren Anwesenheit von
Touristen, die auf dem Wege von der Grimsel zum
Aeggischhorn hier Siesta gehalten. Die Schalen zeigten
sich noch eine gute Weile thalabwärts an mehreren
Stellen und dienten uns als willkommene Wegweiser.
So trollten wir uns denn beruhigt weiter den
grünen Strom entlang, theils auf der Seitenmoräne,
theils auf dem nackten Eise, und es störte uns nicht,
dass der Gletscher immer wilder wurde. Ich hatte
unterdessen — es war sehr heiss, trotz der kühlen
Ausdünstung des Eises — ein sonderbares Erlebniss
mit meiner Phantasie. Die Felsenwände der Trift zu
unserer Rechten stiegen nämlich immer höher, oder
— 104 —
schienen es wenigstens, und die verschiedenen Farben
des Gesteins, feuchter und trockener Felsen, zeichneten
gar eigenthümliche Figuren an die kalten Wände.
Wiederholt schien es mir, ich sähe Schlösser in diesen
Figuren, mit allenj möglichen mittelalterlichen Ge-
thürm; ja ganze Städte stiegen auf und erregten meine
höchste Verwunderung. Der Verstand sagte natürlich
zum Auge, es müsse sich arg täuschen, hier horste nur
der Adler und anderes Gewild, das Auge aber be-
hauptete steif und fest, gerade so sehe Stolzenfels aus,
so namentlich die rheinischen Schlossruinen, und so sei
im Atlas das Felsennest Milianah an den Berg Jaccar
geschmiedet. Mit der Erinnerung an Milianah stiegen
tausend bunte afrikanische Bilder im Gedächtniss auf,
heisse Wüstenpracht, mit welcher heut die nordische
Gletschersonne gewetteifert. Die Sahara begann mit
dem Aletschfim, der Beduin mit dem Hasler einen
tollen Walpurgistanz, Gazelle und Gemse überflogen
einander im Schnelllauf, und Strauss und Lämmergeier
umflügelten sich. Dann kam ich allmälig den ersten
vermeinten Schlössern nahe, das Auge musste bezeu-
gen, der Verstand habe Recht gehabt; hier wirkten ja
— fuhr der Verstand fort, und das Auge wusste nichts
einzuwenden — nur graue und schwarze, trockene und
feuchte Felsen zusammen, um ähnliche phantastische
Gebilde zu erzeugen, wie geschmolzenes Blei oder ge-
frorene Fensterscheiben. Half nichts. Kaum war das
höchst natürliche Räthsel gelöst, so glaubte das Auge
unerschütterlich schon wieder an die folgende, wo
möglich noch unglaublichere Fata Morgana. — Und
das Alles beim blanken hellen Tag, nicht im trüge-
rischen Mondlichte? — Ja. Den Grund aber hat mir
seither mein Leibarzt auseinandergesetzt. Die grosse
Körperanstrengung — wir waren bereits die vierzehnte
— 105 —
Stunde während dieses Tages auf den Beinen — , das
lange Waten im Schnee, verbunden, mit der stechenden
Hitze, die wir vor wie nach dem Wetterstrubel auszu-
halten gehabt, hatten mir das Blut dick und schwer,
in den Kopf getrieben, und wenn dies auch keine
Kopfschmerzen, noch sonstiges Weh verursachte, so
war der anormale Prozess doch mächtig genug, die
Sehnerven zu alteriren und dergestalt dem Auge auf
gewisse Distanz Dinge vorzuspiegeln, die in Wirklich-
keit nicht existirten und nach einiger Zeit von ihm
selbst als leere Hirngespinnste erkannt wurden. Diese
wiederholte und andauernde Täuschung war aber so
überaus energisch, wie ich mich keiner ähnlichen erin-
nere. Wenn in diesen Augenbhcken statt jener Schlösser
und Städte die heilige Jungfrau von Salettes erschienen
wäre, mein Auge hätte eben so sicher daran geglaubt,
trotz alles verständigen Kopfschütteins. Die Phantas-
men wichen erst jener kühleren Abendluft, die der
Dämmerung vorauszugehen pflegt.
Um diese Zeit jedoch bekamen wir mit greifbare-
ren und ernsthafteren Bildern zu thun. Wir gelangten
nämlich zu der Stelle, wo der Triftgletscher zum Vie-
scher Gletscher herunterstürzt. Der Sturz erfolgt in
wilden Sätzen, dass es uns von ferne schien, dort sei
nicht durchzukommen. Der Viescher Gletscher seiner-
seits aber sah gleichfalls sehr verworren aus. Der
Kuckuk mochte wissen, wo wir hingerathen waren,
und zum Unstern neigte sich der Tag recht sichtlich
seinem Ende entgegen. Obschon wir eigentlich gar
nicht sehr fehl waren, sondern nur an einer jener
trügerischen Gletscherstellen, wo man den Weg erst
suchen muss und zuweilen da den sichersten findet, wo
die Sache am schrecklichsten aussieht, so glaubten wir
uns gleichwohl aut's Neue verirrt und hielten bedenk-
— 106 —
liehen Bath. So viel erschien bereits als ausgemacht,
dass wir unter sothanen Umständen schwerlich vor
Mittemacht zum Aeggischhorn hinauf gelangen wür-
den, und ein Jeder machte sich im Stillen auf die
Annehmlichkeiten eines zweiten Bivouaks gefasst.
Uns auf die weitere Sucharbeit zu stärken, mach-
ten wir eine kurze Bast und packten den Proviant
aus, der den allerseits leeren Mägen zu statten kommen
sollte. Entsetzen! Der letzte unserer Schaf braten
war lebendig geworden, eine unzählige Menge von
Maden und Würmern kroch aus dem fauligen Fleisch
an's Tageslicht, um uns schönen guten Abend zu
wünschen.
— Pfui Teufel, Menk! schmeiss ihn weg.
Menk aber schaute das Gewürm und den Braten
gründUch an, er untersuchte genau, ob nicht doch noch
irgendwo ein appetitlicher Fleck aufzutreiben sei, und
erst als er auch gar nichts fand, schüttelte er unwillig
den Kopf und schleuderte den Schlegel mit einem
kräftigen „Donnersdonner" in die nächste Gletscher-
spalte. Nach diesem Verluste waren wir auf den
durstmachenden Käse und eine sehr magere Bation
Schinken reducirt; das musste auf vier strapazirte
Mann für Abend und Morgen ausreichen.
Es war kein Spass, ungesättigt nach langem
Fasten, ermüdet von der Arbeit des Tages, beunruhigt
durch die Ungewissheit unserer Lage, schnurstracks in
den Gletscher hinein zu steuern, um wo mögHch gerade-
wegs über den Eisstrom noch vor Einbruch der Nacht
das jenseitige Ufer zu erreichen, wo die Beschafifenheit
der Bergausläufer versprach, uns am ehesten wieder zu
menschlichen Wohnungen zuführen. Im letzten Punkte
würden wir uns auch nicht verrechnet haben, hätte
uns der Gletscher so schnurstracks durchgelassen, wie
— 107 —
wir wünschten. Der war aber ein tückischer Kamerad.
Erst ging es prächtig auf dem nackten Eise vorwärts.
Wiesen auch die vielen Spalten tiefe und wüste Ab-
gründe, so waren sie doch meistens schmal genug, um
in einem Satz übersprungen werden zu können; und
wo sie hieflir zu breit waren, da bot sich immer wie-
*der ein Quergrat zu Diensten. Nach und nach aber
geriethen wir tief in die Eiswildniss hinein, die Spalten
gähnten immer breiter, schon musste da und dort das
Beil zur Hand genommen werden, und statt von oben
in die Spalten hinunter, begannen wir nach und nach,
ohne dass man sich's dessen versah, von unten herauf
nach kleinen Eisbergen emporzublicken und sie mit
Hülfe des Beils zu erklimmen, um zuletzt die Ent-
deckung zn machen, dass an diesen Stellen nicht weiter
zu kommen sei. Wohl zehn und zwanzig Mal wurden
dergestalt unsere Angriffe durch die helle Unmöglich-
keit zurückgeschlagen. Die Ruhe, mit welcher wir an-
fänglich in solchem Falle nach einer besseren Fürth
spähten, machte nach und nach dem Aerger Platz, und
der Aerger wuchs unvermerkt zu gelinder Wuth an.
Sie äusserte sich in allerlei Kraftausdrücken und in
einem permanenten Laufschritt, der hie und da auch
ein verwegener war; denn ich bin heute noch über-
zeugt, dass wir bei nüchternem Blute manch' eine
Spalte sorglich umgangen haben würden, welche jetzt
in der Aufregung der Besorgniss, die der sinkende
Abend von Minute zu Minute steigerte, als selbstver-
ständlich übersprungen wurde. Aber freilich, die Wuth
stampft gern, und ein derbes Auftreten auf schlüpfrigem
Gletschereis ist eine Grundbedingung der Sicherheit.
Mir selbst begegnete es, dass ich in der zweiten und
dritten Stunde keine Gefahr mehr kannte, wo ich in
der ersten Stunde fast ängstlich zu Werke gegangen
— 108 —
war und mehr als einmal gestrauchelt hatte. So
macht auch in grösseren Dingen die Schlachtwuth
tapferer, wenn das Geschäft im Gang ist und die Nase
erst Pulver gerochen hat.
Wie? — fragt Ihr — in der zweiten und dritten
Stunde, sagtest du eben? — Ja wohl, und der Himmel
weiss, wie das zuging. Allein zwei volle Stunden
waren wir im Gletscher oder, deutlicher gesprochen, in
dem Strudel von unzähligen Eisbergen herumgesteuert,
ohne die gehoffte Durchfahrt zu finden, und die Uhr
zeigte die achte Abendstunde, die Bergspitzen ver-
hauchten ihr letztes Both, sie erblassten, die Nacht
senkte sich auf das enge wilde AlpenthaL Wir aber
Stacken noch mitten im Gletscher. Es war die höchste
Zeit, aus dem Labyrinthe hinaus zu kommen, in wel-
cher Eichtung immer es sei, wenn wir nicht Gefahr
laufen wollten, die Nacht auf dem nackten Eise zu-
bringen zu müssen. Jetzt ergriff auf mein bestimmtes Ge-
heiss Kaspar, der bis dahin den Andern die Zügel zu frei
gelassen, den unumschränkten Oberbefehl und leitete
die Kolonne in rückwärtiger Bichtung, aber ebenfalls
nach dem linken Ufer hin, wo der Gletscher ein
weniger wildes Aussehen hatte. Bereits musste sich
die Mannschaft wegen der eingebrochenen Dunkelheit
nahe beisammen halten, damit uns Keiner verloren
ging. Anfangs wurden noch mehrere arge Schrunde
übersprungen und überklettert, dann aber gestaltete
sich der Strom zahmer, und als die dritte Stunde
dieser Irrfahrt auf dem Gletscher noch nicht ganz
abgelaufen war, erreichten wir höchlich beruhigten
Gemüthes die Moräne des linken Ufers an den Ab-
hängen des Setzenhoms.
Weiter wurde auf der holperigen Moräne mar-
schirt, welche die Sohle einer engen Schlucht bildete,
— 109 —
wo die Eiswände des Gletschers ziir Rechten und die
finstem Felsenwände des Berges zur Linken dem
Lichte des Sternenhimmels beinah' keinen Zutritt ge-
statteten. Wir hielten da unsere Blicke in einem fort
spähend nach dem Felsen gerichtet, entschlossen, die
erste auch nur einigermassen thunliche Schlafstelle
zum Ziele der heutigen Wanderung zu wählen. Mich
aber hatte unterdessen ein brennender Wasserdurst
gepackt und ich schaute vergebens nach einem laben-
den Tropfen aus. Oft glaubte ich vor mir einen
Schneefleck zu sehen, ich eilte auf ihn zu, streckte
gierig die Hand aus, um den lechzenden, von
Wein und Kirsch völlig angeekelten Gaumen zu er-
frischen: es war jedesmal trockener, verstaubter Mo-
ränekoth.
Endlich, nach 9 Uhr Abends, also nachdem wir
17 Stunden marschirt waren, stieg die Moräne zu einer
Stelle hinauf, wo der Felsen überhing und dadurch eine
halbe Höhle gestaltete. Hier beschlossen wir die
Nacht zu verbleiben. Mir ward grossmüthig die höhlen-
artige Vertiefung abgetreten, und einer der Führer
kauerte sich hart an mich heran, um den Rest des
geschützten Flecks zu erhaschen; die beiden Uebrigen
aber betteten sich, so gut oder schlecht es eben gehen
wollte, auf den trockenen Gletscherkoth. Bevor wir
ims hinstreckten, war der brave Menk noch eine
Strecke vorwärts nach frischem Wasser ausgegangen,
er kehrte jedoch nach wenigen Minuten mit der Mel-
dung zurück, da vorne gähne ein weiter Schrund, an
den man sich bei der Dunkelheit nicht wagen dürfe,
und was hinter diesem stecke, wisse der Himmel. Ich
that aus Verzweiflung noch einen derben Schluck aus
der Weinflasche, streckte mich in die Höhle, zog die
Wolldecke über die Ohren und verfiel rasch in einen
— 110 —
erquickenden Schlummer. Die üebrigen thaten des-
gleichen. Zu essen hatte Keiner verlangt, obschon wir
AUe sehr hungrig waren. Wir waren äxmer an Pro-
viant als hungrig, und müder als arm; die geistige
Aufregung der letzten drei Stunden hatte uns sehr
ermattet, so dass Niemand etwas Anderes mehr suchte,
als Buhe und Schlaf.
Schluss.
Die Fahrt ist zu Ende. Ich erwarte getrost, dass
der Leser uns entschuldigt, wenn er erfahrt, dass wir
am Morgen des 1. August, nach einer durchmarschirten
und zwei im Felsenbivouak durchfrorenen Nächten und
nach zwei angestrengten Tagemärschen im Gletscher,
die Heimkehr zur Menschheit vollzogen.
Früh 4 Uhr, nachdem der letzte Rest unseres Pro-
viants mit Heisshunger vertilgt worden, brachen wir
auf, kletterten noch eine geraume Zeit über die Mo-
räne, dem Gletscher entlang, stiegen dann an der
Jännialp empor und nahmen von ihrer Höhe weg,
welche eine schöne Aussicht über etliche Dörfer des
oberen Rhonethals öflfnete, die Richtung nach Viesch.
Es war wieder ein glänzender Tag aufgegangen, und
drüben hoch über dem Viescher Gletscher schimmerten
die weissen Mauern des Aeggischhom-Hotels in der
Morgensonne. Der Tag war aber auch früh schon
heiss, und die Hitze, sammt der von den vorangegan-
genen Tagen ererbten Müdigkeit schlug mir empfind-
lich in die Kniee, als es von der Alphöhe die lange
— 112 .—
Steig nach dem Viescher Thal hinunter ging. Wie
viele Kirschen wir da im Vorbeigange von den Bäu-
men stipitzt, verrathe ich nicht. Um 9 ühr Vormit-
tage erreichten wir Viesch, 57 Stunden nach dem Ab-
marsch von Innertkirchen.
Die Fahrt war eine anstrengende; allein weit, weit
über alle Mühen hinaus reichte der Genuss und reicht
die Erinnerung an die erschlossenen Herrlichkeiten.
Dem Finsteraarhom ist längst der Zauber der
Unnahbarkeit genommen, und die nicht mehr seltenen
Ersteigungen seines Gipfels werden ihn bald auch zu
einem nicht mehr gefiirchteten machen. Allein der
wundervolle Berg verHert nichts dabei, wenn er nach
und nach ein Gemeingut der Männer wird, deren
stolzes Bestreben es ist, in der schwellenden Luft der
Firne aus dem Urquell des Lebens zu schöpfen und
auf hoher Alpenzinne dem Weltgeist nahe zu treten.
Wie dieser Berg bis vor Kurzem einer der gemieden-
sten Kulme war, so wird er eines Tages vielleicht einer
der gesuchtesten sein und sicherlich nichts an Gross-
artigkeit einbüssen, wenn Wissenschaft, Kunst und
Poesie sich seiner Schätze bemächtigen. So fliehen auf
allen Gebieten menschlichen Thuns die Schrecken der
Finstemiss und des Aberglaubens scheu zurück vor dem
Wissen und dem Muthe der Neuzeit. Die Furchtbar-
keit des Finsteraarhorns ist begraben, seine Schönheit
geht auf.
Droek ron Gebrttder Ksti in Dessau.
// V
2A Tlfierbery
9£ (matenhorri'
97 Obemarfwmy
2S Studerhorw
A Oheraarjoeh
B BothhomscüUd
C Grünharnliiche
- Marschroale
dß^Verjussers
/ Finstenuirhoi^'
? AjfiLssixhom
3 Grosses Mescherhorvy
4 VUs<^er6r(it
J Manch
6 Jungfmuy
7 Ghiscktrhorrv
8 Ahist^horrv
9 Vlesdierhörner
iOKdfnrn
U Warmthvrw
f 2 Tri/t
ß Fif^ischkorrt
i4^ Selxenhorrv
15 Wa^eTtharny
16 WalÜserBäiklufTfiy
17 BemerRaihhorth
18 Laffelharrv
19 Gesehener Stock
20 UlTi4^jer St4jck^
2^ Grosses Sidelham
2Z Zütkjenstoek/
23 Srünber^
Maarsstab: 1: 100.000
3 tios QSH fla^ "j;"
STANFORD UNIVERSITY LIBRARIES
CECIL H. GREEN LIBRARY
STANFORD, CALIFORNIA 94305-6004
(415) 723-1493
All books may be recailed öfter 7 days
DATE DUE